# taz.de -- Europa und die Ukraine: Magie und Zeitmaschine | |
> Der Bürgermeister von Lwiw redet gern über die Zukunft seiner Stadt. Als | |
> gebe es keinen Krieg im Osten. Eindrücke aus der Westukraine. | |
Bild: „Unsere Stadt wurde von den besten Architekten der Welt errichtet“, s… | |
LWIW taz | Die Swoboda-Allee ist die Prachtstaße von Lwiw. Sie ist gesäumt | |
von großbürgerlichen, renovierten Wohnhäusern im klassizistischen Stil, in | |
der Mitte teilt ein Spazierweg die Straße. Am Ende der Straße findet sich | |
ein wuchtiges Opernhaus, das an das Wiener Burgtheater erinnert. | |
Wenn man sich die Ohren zuhält, um das Dröhnen der SUVs auszublenden, die | |
über das Kopfsteinpflaster rasen, kann man für einen Moment fantasieren, | |
wie diese Stadt vor hundert Jahren aussah. Damals, im Juni 1914, kurz vor | |
Krieg und Katastrophe. Als Lemberg östlichste Großstadt des Habsburger | |
Reiches war. 1945 war die Stadt leergefegt, fast neun Zehntel der | |
Einwohner, Juden und Polen, waren massakriert, erschlagen, deportiert und | |
vernichtet worden. 2014 gibt es nur eine Handvoll Familien in Lwiw, deren | |
Urgroßeltern schon hier lebten. | |
Andri Sadowyj, Mitte vierzig, ist Bürgermeister von Lwiw. Ein guter Mann, | |
das sagen viele in der Stadt. Will sagen: nicht so korrupt, wie es | |
ukrainische Politiker in der Regel sind. Und er versteht sich auf | |
Symbolpolitik, schließlich gehört ihm auch ein privater städtischer | |
Fernsehkanal. Im Winter rief er einen Tag der russischen Sprache aus, an | |
dem in Lwiw nur Russisch gesprochen werden sollte. Das war ein kluger Zug. | |
Ein Zeichen, dass der Aufstand auf dem Maidan gegen Janukowitsch keine | |
Machtübernahme antirussischer „Faschisten“ war, wie es die russische | |
Propaganda monoton behauptet. In Lwiw hat die rechtsextreme Partei Swoboda | |
die Mehrheit im Stadtparlament. Die Rechtsnationalisten wurden 2010 auch | |
als Antikorruptionspartei gewählt – diesen Ruf haben sie inzwischen | |
tatkräftig ruiniert. | |
## Die besten Architekten | |
Der Bürgermeister spricht lieber über die glänzende Vergangenheit und die | |
lichte Zukunft der Stadt als über gegenwärtige Rechtsextreme. „Sehen Sie | |
doch die wunderbare Architektur in Lwiw. Unsere Stadt wurde von den besten | |
Architekten der Welt errichtet“, sagt er. „Ich wünsche mir, dass wieder die | |
besten Architekten und Ingenieure der Welt bei uns arbeiten.“ | |
Die Gespenster der Sowjetzeit sollen endgültig gebannt werden, und in einer | |
kühnen Ellipse sollen sich K.-u.-k.-Vergangenheit und die Zukunft als Teil | |
der EU wundersam miteinander verbinden. Es klingt ein wenig nach Magie und | |
Zeitmaschine. Das ist der Traum von Andri Sadowyj. Es gibt in Lwiw viele | |
Träume, Retroträume von einer Geschichte, die nicht so war, wie es die | |
nationale Mythologie gern erzählt, Zukunftsvisionen, hochfliegend und vage. | |
Für die meisten Menschen in Lwiw ist Westeuropa eine Fata Morgana, zum | |
Greifen nah und unerreichbar zugleich. Man steht vor tadellos renovierten | |
Rokokokirchen, und Barockfassaden von Bürgerhäusern, die auch in Venedig | |
stehen könnten. Die polnische Grenze ist nur 60 Kilometer entfernt. Polen | |
ist seit 2007 Teil des Schengener EU-Grenzregimes. Seitdem ist der Weg nach | |
Westen noch schwieriger geworden. | |
## Die EU - eine Erlösungschiffre | |
Warum, fragen manche vorwurfsvoll, ist die Slowakei, ist Rumänien, ist | |
Bulgarien in der EU – und die Ukraine nicht? Die EU ist fast eine | |
Erlösungschiffre. Man hofft, dass der Westen die Ukraine heilen wird, deren | |
eigenes Immunsystem gegen Machtmissbrauch, Willkür, Rechtsbeugung, | |
Bestechung zu schwach ist. Kateryna Gladka ist eine junge, selbstbewusste | |
Journalistin. Sie hat Monate auf dem Maidan in Kiew verbracht. „Einer | |
meiner Professoren wurde dort erschossen“, sagt sie. Sie spricht Englisch, | |
was in Lwiw fast so selten ist wie jemand, der Putin mag. Sie redet | |
schnell, eloquent, zugespitzt. „Ihr in Westeuropa braucht uns doch als | |
Mauer gegen die russische Aggression“, sagt sie. Das ist ihr Traum: dass | |
man in Paris, Berlin, Rom begreift, dass die Ukraine zu Europa gehört und | |
Moskau nicht. Man weiß nicht, was an diesem Satz mehr verstört: der | |
verzweifelte Versuch dazuzugehören oder der martialische Ton. | |
Halina Bekar ist eine zierliche Mittfünfzigerin, sorgsam, zurückhaltend | |
gekleidet. Sie trägt einen asymmetrischen blonden Kurzhaarschnitt, der | |
seine Form nie zu verlieren scheint. Die gelernte Bauingenieurin ist spät | |
ins Immobiliengeschäft eingestiegen. Sie hat ihrem Sohn, der in Polen einen | |
gut bezahlten Job hat, das Studium finanziert. Eine erfolgreiche Karriere. | |
Bis die globale Finanzkrise ihr Immobiliengeschäft ruinierte. | |
Halina ist zu Sowjetzeiten groß geworden. „Ich bin Internationalistin“, | |
sagt sie lachend beim Rundgang durch die Altstadt. An klassizistischen | |
Häuserwänden kleben Plakate mit Gesichtern der Opfer, die am 20. und 21. | |
Februar von Scharfschützen auf dem Maidan erschossen wurden. „Den Toten des | |
russisch-ukrainischen Krieges“ steht darunter. Halina wendet den Blick | |
erschrocken ab. | |
## Riss durch die Familien | |
Sie hat wie so viele Geld für die ukrainische Armee gespendet. Die | |
Separatisten im Osten hält sie, wie fast alle in Lwiw, für „Terroristen“, | |
die man mit Gewalt bekämpfen muss. Und der Krieg ist längst nicht zu Ende. | |
Auch nach dem Rückzug der Separatisten aus Slowjansk ist „niemand | |
euphorisch“, sagt Halina. Aber ein Krieg mit Russland? Sie zuckt zusammen. | |
Der Krieg, der auf dem Plakat suggeriert wird, droht ihre Familie zu | |
zerreißen. | |
Ihre Schwester ist mit einem Russen verheiratet und lebt in Samara, | |
Zentralrussland. Sie telefonieren jede Woche miteinander. Aber es ist | |
kompliziert geworden. „Ich traue mich kaum noch den Hörer abzuheben, wenn | |
meine Schwester anruft.“ Im russischen Fernsehen werden immer wieder | |
Horrormeldungen über Lwiw verbreitet, die Halinas Verwandte mit Empörung am | |
Telefon wiederholen. Der Familie ihrer Schwester geht es, wie vielen | |
Mittelschichtsangehörigen, in Russland besser als in der Ukraine. Sie haben | |
ihr mit Geld geholfen, als sie in Not war. Familien sind, angesichts von | |
Korruption und Willkür, ein verlässlicher Rückhalt. Wenn Familien | |
zerbrechen, ist das doppelt bedrohlich: Es fehlt die einzige reißfeste | |
soziale Textur. | |
Manchmal ist der Krieg im Osten nah, auch hier im friedlich wirkenden | |
Westen der Ukraine. In Jaworiw, fünfzig Kilometer von Lwiw, haben Frauen, | |
Mütter und Ehefrauen zwei Tage lang die Straßen blockiert. Um zu | |
verhindern, dass ihre Männer und Söhne als Soldaten einberufen werden. Und | |
im Donbass als „Kanonenfutter“ gebraucht werden. | |
## Der letzte Hippie | |
Im dunklen Gewölbe einer Kneipe sitzt Alik Olisewitsch. Die langen Haare, | |
mittlerweile grau, werden von einem bunten dünnen Stirnband | |
zusammengehalten. „Frieden und Freiheit“, ruft Alik, das seien seine | |
politischen und privaten Lebensprinzipien. „Ich lass mir von keinem etwas | |
vorschreiben.“ Er ist der letzte Hippie in Lwiw. | |
Sein Freund Ivan Banach, Arzt am städtischen Krankenhaus, der Aliks Buch | |
über die kleine Lwiwer Revolte von 1968 herausgegeben hat, sagt: „Alik war | |
immer außerhalb des Systems.“ Der Althippie, der niemals Drogen nahm und | |
auch mit Alkohol vorsichtig umgeht. Kinder hat er nicht, das würde zu viel | |
Abhängigkeit bedeuten. Vor zwanzig Jahren war er mit einer Serbin | |
verheiratet. Es ging nicht gut, sie wurde religiös. Das war nichts für | |
Alik, den Freigeist. | |
Alik, der als Beleuchter in der Oper arbeitet, hat einen weiteren Freund | |
mitgebracht, aus Moskau. Sascha Iwanow ist Künstler, zählt zu der | |
randständigen Opposition in Russland. Er war mit einem seiner fünf Söhne am | |
25. Mai Wahlbeobachter bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen. Iwan | |
redet sich in Rage, gegen Putin, Russland, gegen die Separatisten im Osten. | |
„Wir sterben dort!“, ruft er. Die Einverleibung der Krim, die Aufstände im | |
Osten, das sind für Iwan eindeutige Zeichen, dass der russische Bär wieder | |
da ist. Eine Gefahr für ganz Europa. In der Ukraine, sagt Iwan, werde | |
Europa gegen Russland verteidigt, nur sei die EU zu dumm, das zu begreifen. | |
Es ist eine Wutrede gegen die Korruption im Krankenhaus, die trägen | |
Europäer, die bösartigen Russen. | |
## Ukraine statt Griechenland | |
Die Stimmung ist aufgeheizt, es wird laut. Sascha, lange Haare und Adressat | |
der Wut, versucht ruhig zu bleiben. „Iwan, ich verstehe deine Ungeduld. Ich | |
habe mir auch nicht träumen lassen, dass meine Kinder in einem autoritären | |
System erwachsen werden.“ In Moskau gehe es ihm wirtschaftlich recht gut. | |
Aber er würde lieber das bessere Auto gegen mehr Pluralität eintauschen. | |
„Wir müssen für demokratische Prinzipien eintreten, bis sich die Dinge | |
ändern“, sagt er. Ausharren, durchhalten. | |
Sascha hält Russland nicht für die Gefahr, die viele Ukrainer sehen. Die | |
russische Wirtschaft sei viel zu anfällig und abhängig von Rohstoffpreisen, | |
um imperiale Träume verwirklichen zu können. Die Rückbesinnung auf | |
imperiale Zeiten richte sich eher nach innen als nach außen. | |
Iwan beruhigt sich langsam, nur zwischendurch will er in der EU | |
Griechenland durch die Ukraine ersetzen. Fast übergangslos entsteht eine | |
sachliche Debatte, wie die Sowjetmentalität das Denken noch immer | |
beeinflusst. Gemeinsam beklagen Russen und Ukrainer fehlenden | |
Widerstandsgeist und wünschen sich funktionierende, radikale | |
Gewerkschaften. | |
Es ist eine kurze Atempause in der kriegerischen Eskalation zwischen Russen | |
und Ukrainern. | |
10 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Katja Maurer | |
Stefan Reinecke | |
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