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# taz.de -- Lwiw in der Westukraine: Sicherheit, selbst organisiert
> Nach dem Sturz Janukowitschs ist in Lwiw vieles anders. Die Polizei ist
> abgetaucht. Die Bürger kümmern sich selbst um ihre Sicherheit.
Bild: Demonstranten vor einem Regierungsgebäude in Lwiw während der Unruhen i…
LWIW taz | Es ist zehn Uhr abends. Auf dem Platz vor der Universität haben
sich etwa fünfzig Menschen versammelt, in der Mehrzahl jüngere Leute. Alle
haben ihr Fahrrad dabei. Demjan Danyluk, um die Mitte 20, verteilt
reflektierende Westen und Zettel mit den wichtigsten Telefonnummern. Dann
erklärt er die Regeln für diejenigen, die heute zum ersten Mal dabei sind.
Es geht ziemlich schnell. Fünf bis sechs Leute finden sich jeweils in einer
Gruppe zusammen, nach einer Viertelstunde schwärmen die Trupps einzeln aus.
Ihre Aufgabe ist es, durch die Stadt zu patrouillieren und alle
verdächtigen Situationen an die Zentrale zu melden.
Mehr als eine Woche ist es her, dass wütende Demonstranten mehrere
Polizeistationen sowie den Sitz der Staatsanwaltschaft in Lwiw und anderen
Städten des Landes gestürmt und zertrümmert haben. Seither trauen sich die
einfachen Beamten in Lwiw kaum noch in Uniform auf die Straße. Ihre
Führungsspitze ist zurückgetreten, und obwohl man nach dem Sturz von
Janukowitsch beteuerte, die Polizei sei mit dem Volk, vertraut niemand mehr
den Institutionen, die das verhasste alte Regime verkörpern. Statt
Verbrecher zu jagen, arbeiteten viele Beamte selbst mit Kriminellen
zusammen und deckten illegale Geschäfte.
Doch auch ohne Polizeipräsenz gibt es kein Chaos in der Stadt.
Bürgerpatrouillen gehen in diesen Tagen in kleinen Gruppen zu Fuß auf
Streife, mittlerweile gehört der ein oder andere Polizist in Zivil dazu.
Das Rathaus arbeitet normal – der 2010 wiedergewählte Oberbürgermeister
Andrij Sadovij hatte sich ohnehin mit den Protesten solidarisiert. Schon
seit Januar prangt ein Banner mit dem Spruch „Freie Stadt für freie Bürger�…
am Rathaus, die EU-Fahne flattert hoffnungsfroh im Wind.
„Unsere Gruppe ist für die Stadtmitte verantwortlich, für die kleinen
Straßen im Zentrum“, erklärt Demjan Danyluk. Er hat schon als Mitbegründer
der Bürgerinitiative Lypneva.com, einer Bewegung für die Neugestaltung
öffentlicher Räume, organisatorische Erfahrungen gesammelt. Danyluks Gruppe
legt einen kurzen Stopp vor einem geplünderten Polizeikommissariat ein. Ein
paar Männer und Frauen bewachen das Gebäude. Daneben stehen zwei
abgebrannte Polizeiwagen. Ein kurzer Wortwechsel, alles ist ruhig. Die
Radfahrer begeben sich wieder auf den Weg.
## Freiwillige patrouillieren
„Wir sind mit unseren Fahrrädern sehr mobil, können schnell reagieren und
auch die Parks und Hinterhöfe kontrollieren“, sagt Marta Dropa. Die
24-Jährige ist normalerweise Reiseführerin für Lwiw und die Karpaten. „Uns
ist nicht egal, was in unserer Stadt passiert. Deshalb tun wir, was wir
können“, fügt ihr Kollege hinzu. Jede Gruppe ist drei Stunden lang
unterwegs. Die schwierigste, aber auch wichtigste Zeit ist zwischen
Mitternacht und fünf Uhr morgens. Die Freiwilligen sind müde, die Zeit
zieht sich unendlich hin. Trotzdem gibt keiner auf. Mehr als tausend
Menschen gehen jede Nacht auf Streife.
Viel zu melden hatten die Radpatrouillen bisher nicht. Kleine
Zwischenfälle, ein paar Betrunkene. „Ich habe das Gefühl, dass Lwiw heute
die sicherste Stadt der Welt ist. Sehr viele Menschen, egal ob zu Fuß, mit
dem Fahrrad oder mit dem Auto unterwegs, achten tags wie nachts darauf, ob
bei den anderen alles in Ordnung ist und ob jemand vielleicht Hilfe
braucht“, berichtet Marta Dropa, nachdem die Gruppe einen Hinterhof
gecheckt hat. Alle setzen sich auf ihre Fahrräder und verschwinden hinter
der nächsten Kurve.
An der Fassade des Polizeipräsidiums hängen mehrere Plakate. Das
neoklassizistische Gebäude wurde vor dem Ersten Weltkrieg für eine
Genossenschaftsbank gebaut. In der Zwischenkriegszeit war hier im
Erdgeschoss das bekannte Kaffeehaus Warszawa untergebracht, in der
Sowjetzeit zog die Miliz ein. Auf einem Plakat steht „Sklaven kommen nicht
ins Paradies“. Unter diesem Motto hat sich die Initiative gegründet, aus
der die Selbstverteidigung, eine Art Bürgerwehr, entstanden ist. Auch
dieses Gebäude wurde vor einer Woche gestürmt, die Beschädigungen halten
sich jedoch in Grenzen. Die ausgeschlagenen Fenster im Erdgeschoss wurden
mit einer Plane abgedichtet. Das Drehkreuz existiert nicht mehr. In der
Vorhalle schieben zwei Männer Wache, aber der Eingang ist frei.
## Strenge Eignungsprüfung
Hier hat die Bürgerwehr ihre Zentrale eingerichtet. In enger Abstimmung mit
der Stadtverwaltung versuchen die freiwilligen Helfer, die Lage in Lwiw zu
kontrollieren. Im Konferenzraum ist alles noch im alten Stil eingerichtet.
Plüschsessel, sogar die Tafel mit der Inschrift „Hauptabteilung des
Ministeriums für Inneres der Region Lwiw“, was in etwa „Das
Polizeipräsidium“ bedeutet, ist noch da. Heute Abend herrscht hier reger
Verkehr. Iwan Spyrynskyj, ein junger Mann in Tarnanzug und mit dem
Haarschnitt eines ukrainischen Kosaken, versucht, die Arbeit zu
koordinieren. „Ich bin keine Militärperson. Aber die Polizei ist nicht
imstande, ihre Funktionen zu erfüllen“, sagt er. „Außerdem ist das die
Polizei der alten, verbrecherischen, korrumpierten Macht.“
Bevor sich die Hilfspolizisten an die Arbeit machen, müssen sie eine
strenge Eignungsprüfung durchlaufen. Iwan Spyrynskyj ist für die
Autohundertschaft zuständig. Das sind die freiwilligen
Automobilpatrouillen, die abends und nachts durch das ganze Stadtgebiet
fahren. „Mittlerweile haben wir insgesamt 600 Autos, die bereitstehen“,
erklärt er. Die Streifen reagierten sehr schnell, viel schneller, als dies
bei der Polizei der Fall war. „Wir hatten gestern einen Zwischenfall, ein
Betrunkener hat zwei Frauen belästigt. Nachdem der Anruf bei der
Notrufzentrale gemeldet wurde, waren wenige Minuten später sechs unserer
Autos da.“
## Schnelles Reagieren
Andrij Chawunka, ein kräftiger, untersetzter Mann Mitte 40 mit Vollbart,
setzt sich in seinen Kia Rio und fährt los. Er trägt ein dunkelgrünes
Barett und eine dicke, warme Jacke. Immer zwei Personen sind bei einer
Autostreife zusammen unterwegs. Chawunkas Partner sitzt auf dem Vordersitz,
im Kofferraum liegen ein Schlagstock und zwei Helme. „Wir fahren entweder
durch die Stadt, oder wir bleiben in der Zentrale und warten auf die
Anrufe. Etwa jedes fünfte Auto patrouilliert durch die Stadt, die anderen
warten. Wenn nötig, werden sie gerufen. Wir reagieren sehr schnell.
Schneller, als ich dachte.“ Andrij Chawunka fährt heute in die
Außenviertel. Die sogenannten Schlafbezirke mit zahlreichen Plattenbauten
gelten als Problemzonen. Er dreht eine Runde vor dem großen
Einkaufszentrum. Alles leuchtet in Neonrot, im Moment gibt es nichts zu
melden.
„Zum Glück ist alles ziemlich ruhig. Wir kommen gut zurecht. Es gibt keine
blutigen Schlägereien. Die Lwiwer sind sehr bewusste Menschen.“ Andrij
Chawunka ist bereits seit sechs Tagen mit dabei. Er weiß noch nicht, wie es
weitergeht, ist aber überzeugt, dass es im Moment am Wichtigsten sei, die
Macht zu kontrollieren – die Polizei, die Abgeordneten. „Es liegt in der
Natur des Menschen, dass die Macht einen verdirbt.“ Andrij will versuchen,
das zu verhindern, wie die anderen Bürger wohl auch. Vielleicht würden die
Kriminellen diese Stimmung spüren, dass sie im Moment nicht das tun können,
was sie wollen. Lwiw sei eine etwas besondere Stadt, sagt Andrij Chawunka
nicht ohne Stolz.
Viermal war er auf dem Maidan in Kiew, arbeitete dort in der Wache, war
einige Zeit auf den Barrikaden. Damals wurde noch mit Gummikugeln
geschossen, eine hatte ihn getroffen, aber kaum verletzt. Seine Frau hat
sich Sorgen gemacht, Andrij ist schließlich Familienvater, drei Kinder
wachsen in der Familie heran. Als Andrij bei Facebook auf die Informationen
über die Autohundertschaft der Selbstverteidigung stieß, wusste er sofort:
Das ist die Chance, sich in Lwiw weiter zu engagieren. „Mir hat sehr gut
gefallen, was man uns gesagt hat. Es hieß, wir würden die Stadt überwachen,
Verletzte und Proviant transportieren. Alles im Rahmen des Gesetzes
selbstverständlich.“
## Die hohe Kunst
Er und sein Partner drehen noch eine Runde im Außenviertel, dann geht es
zurück in die Stadt. Fast in der Innenstadt angekommen, treffen sie auf
eine Patrouille vor dem russischen Generalkonsulat. Die Streife hat die
Aufgabe, das Gebäude rund um die Uhr zu bewachen und Provokationen zu
verhindern. Andrij Chawunka steigt aus dem Auto, wechselt schnell ein paar
Worte mit den drei Männern. Auch hier ist alles ruhig. Zurück in der
Zentrale, erstattet er kurz Bericht, dann geht es für ihn weiter.
Die Streife ist zu Ende, aber noch hat Andrij keinen Feierabend. Er muss
noch zur Probe. Eigentlich ist er nämlich Opernsänger, bis 2009 war er als
Solist an der Lwiw Oper engagiert. Den Figaro aus dem „Barbier von Sevilla“
hat er schon gesungen, inzwischen ist er Mitglied im Oktett „Orpheus“. Die
Probe findet im Saal des Gesundheitsamts des Region Lwiw statt. Vielleicht
arbeitet eines der Ensemblemitglieder hauptberuflich dort, und sie dürfen
dort kostenlos üben.
Die anderen Sänger sind schon da und warten. Andrij Chawunka zieht die
Jacke aus und legt seine Sachen auf den Tisch. Auch den Schlagstock, der
gar nicht zu diesem Raum passt. Als die Männer achtstimmig ein Lied
anstimmen, wird sofort klar: Das ist die hohe Kunst. Das Oktett ist etwa
drei Monate im Jahr auf Tour, unter anderem in Frankreich, in Deutschland
und in den Niederlanden.
Der Gesang klingt fast feierlich im gedämpften Licht. Immer wieder stimmen
die Männer neue Lieder an. Andrijs weicher Bariton harmoniert perfekt mit
den Falsettstimmen, Tenören und Bässen der anderen. Dann legen sie eine
kleine Pause ein. Noch einmal auf seinen neuen ehrenamtlichen Job
angesprochen, sagt Andrij: „Mir gefällt sehr, was ich mache, sonst würde
ich das nicht tun. Hier fühle ich mich nützlich. Meiner Frau und meinen
Kindern, meinem Volk, meinen Freunden.“ Angst, dass er sich erkälten und
seine Stimme gefährden könnte, habe er nicht. Andrij Chawunka ist seit
Jahren Eisschwimmer. Erkältet hat er sich noch nie.
3 Mar 2014
## AUTOREN
Juri Durkot
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