# taz.de -- Kapitalismuskritik von David Harvey: Gefährliche Widersprüche | |
> Der Geograf und Ökonom David Harvey ist einer der einflussreichsten | |
> Marxisten. Seine „Kapital“-Vorlesungen sind auf Youtube populär. | |
Bild: Sah seinem Vorbild auch schon mal ähnlicher: David Harvey. | |
Aus der Sicht der neoliberalen Wirtschaftstheorie sind Krisen in | |
Kapitalismus eigentlich völlig unerklärlich. Sie zeigt in ihren Modellen, | |
wie Märkte stets Richtung Gleichgewicht tendieren, ohne überhaupt erklären | |
zu können, wieso sie je aus dem Gleichgewicht geraten sollten. Die | |
keynesianische Ökonomie wiederum erklärt genau das und zeigt, wie mit | |
kluger Wirtschaftspolitik Krisen vermieden und ihre Wirkungen gedämpft | |
werden können. Die marxistische Schule legt dagegen dar, wie der | |
Kapitalismus aus sich heraus, seiner Widersprüche wegen, stets Krisen | |
produziert. Ihre Schwäche ist freilich, dass sie das System strukturell für | |
funktionsuntüchtig hält, obwohl dieses sich immer wieder am Schopf aus dem | |
Morast zieht. Zyniker sagen: Von den vergangenen zwei Krisen hat sie | |
dreißig vorausgesagt. | |
Krise ist zudem auch ein unpräzises Wort. Unklar ist: Sind damit | |
konjunkturelle Abschwünge, lang andauernde Niedergänge oder gar finale | |
„Todeskrisen“ gemeint? An Letztere glaubte lange ohnehin niemand, was sich | |
aber etwas verändert hat, da der Kapitalismus – überraschend für alle – | |
2008 beinahe wirklich zusammengebrochen wäre. Seither hört man nicht nur | |
den keynesianischen Ökonomen wie Paul Krugman, Joseph Stiglitz oder Thomas | |
Piketty wieder aufmerksamer zu, sondern auch marxistischen Forschern. | |
Der amerikanische Geograf und Ökonom David Harvey ist ein solcher | |
Krisengewinnler. Sechs Bücher hat er allein in den vergangenen sechs Jahren | |
herausgebracht und sie finden Leser über den begrenzten Kreis des | |
postbolschewistischen Sektenwesens hinaus. Seine Prominenz verdankt er | |
nicht zuletzt seinen „Kapital“-Vorlesungen, die auf YouTube eine große | |
Zuseherschar versammelt haben. Eine Viertelmillion Leute haben diese | |
Theoriestunden gesehen. | |
Von seinen aktuellen Büchern sind in den vergangenen Jahren zwei auf | |
Deutsch erschienen: „Rebellische Städte“ und das schmale Bändchen | |
„Kapitalismuskritik“. Beide Bücher kreisen um Harveys professionelles | |
Standbein als Geograf mit besonderer Expertise für Urbanisierungsprozesse. | |
Aber Harvey hat auch hier den großen Blick: Kapital konzentriert sich in | |
urbanen Konglomerationen. Boomregionen lassen Megastädte wachsen. | |
Finanzbooms führen immer zu Immobilienbooms und -blasen. Beinahe jede | |
Finanzkrise ist auch eine Immobilienkrise. Die Krise und die Städte sind | |
untrennbar miteinander verbunden, zumal in einer Zeit, in der mehr als die | |
Hälfte der Weltbevölkerung in urbanen Zentren lebt. | |
## Orthodoxe Kategorien mit leichtfüßigem Feuilletonismus legiert | |
Überschüssiges Kapital war in der Geschichte immer in die Restrukturierung | |
von Städten geflossen, von Haussmanns modernem Paris über die | |
Suburbanisierung Amerikas im Nachkriegsaufschwung bis zum Immobilienboom | |
der vergangenen Jahre. Der Immobilienmarkt ist besonders interessant, er | |
steht pars pro toto für den Kapitalismus. Hier werden Waren produziert, die | |
einen hohen Gebrauchswert und einen hohen Tauschwert zugleich haben – | |
Häuser dienen ja zum Wohnen und sind gleichzeitig Vermögenswerte. | |
Keine Ware, sei sie ein noch so hochwertiger Fernseher oder ein Auto, | |
Goldbarren oder Wertpapier vereint diese beiden Funktionen so radikal. | |
„Markt“, jedenfalls in dem Sinn, wie sich die Marktideologie „Märkte“ | |
vorstellt, ist der Immobilienmarkt auch keiner – dazu ist er viel zu sehr | |
mit einer Finanzbranche verbunden, die beispielsweise Immobilienentwicklern | |
Kredit gibt, damit sie Häuser bauen, und dann Haushalten Kredit gibt, um | |
genau diese Häuser zu kaufen (Kreditvergabe, die von recht fiktiven | |
Bewertungen in den Büchern der Banken abhängt). Ein manipulierter Markt, | |
der mit freiem Spiel von Angebot und Nachfrage recht wenig zu tun hat. | |
Harvey: „Optimismus auf den Finanzmärkten hat die Macht, Wolkenkratzer in | |
den Himmel schießen zu lassen, aber er kann nicht dafür sorgen, dass sich | |
die Gebäude auch rentieren.“ | |
Was Harvey unter marxistischen Denkern bemerkenswert macht, ist die Art, | |
wie er orthodoxe Kategorien mit leichtfüßigem Feuilletonismus legiert. Da | |
schildert er den „existenziellen Schmerz, den das Verdorren des | |
alltäglichen Stadtlebens verursacht“, eines Stadtlebens, das wild und | |
konfliktreich ist, „Stadt der Lichter“, des „Umherschweifens“, er zeich… | |
in schönen Strichen die Prozesse der Gentrifizierung, um sie dann auf | |
originelle Weise in Begriffen Marx’scher Systematik zu ordnen: Stadtleben | |
sei ein Allgemeingut, das von den Bewohnern produziert, dann aber durch | |
private Aneignung teilweise sogar zerstört wird. Pulsierende Quartiere | |
werden ja nicht nur zur Beute von Investoren, sondern damit auch ruiniert. | |
Was die Marx’sche von anderen Schulen der ökonomischen Analyse | |
unterscheidet, ist die Vorstellung grundlegender Widersprüche des | |
Kapitalismus, die stetige Krisenhaftigkeit evozieren. In „Seventeen | |
Contradictions and the End of Capitalism“, in diesem Frühjahr erschienen, | |
interpretiert Harvey diese „Grundwidersprüche“ zeitgemäß. | |
## Hart an den Fakten | |
Eigenart dieser Widersprüche ist, dass sie nie völlig gelöst werden können: | |
Während die Beschäftigten für alle Kapitalisten gleichzeitig Konsumenten | |
sind (weshalb sie ihre Kaufkraft schätzen), sind die jeweils eigenen | |
Beschäftigten für jeden Kapitalisten nur Kostenfaktoren (weshalb sie ihre | |
Löhne drücken). Ein Widerspruch ohne Ausweg. Immer mehr Kapitalakkumulation | |
führt zu immer weniger Möglichkeiten, schnell große Profite zu machen; | |
Lohndrückerei führt zu niedrigem Wachstum, hohe Löhne wiederum zu sinkenden | |
Profiten; mehr Wettbewerb führt nicht zu mehr Dezentralisierung, sondern zu | |
immer mehr Kapitalkonzentration, von Microsoft über die Automobilbranche | |
bis zum globalen Finanzsystem. | |
Harvey fantasiert sich die Welt nicht zusammen, sondern bleibt hart an den | |
Fakten und spürt die Systemkurzschlüsse auf, die die Neoliberalen leugnen | |
und auch durch die keynesianischen Modelle nicht aus der Welt zu schaffen | |
sind. | |
Natürlich weiß auch er, dass der Kapitalismus trotz dieser Widersprüche | |
sich als recht robust erwiesen hat, und so führt er neben allgemeiner | |
Widersprüche die „gefährlichen Widersprüche“ ein: Dazu zählt das Wachst… | |
das viel zu gering ist, das Aufrechterhalten des Systems auf Pump, und | |
gleichzeitig die Unmöglichkeit eines beschleunigten Wachstums aufgrund | |
ökologischer Grenzen. Diese Widersprüche standen Pate bei der 2008er Krise, | |
da die Überschuldung von Banken, Staaten und privater Haushalte ja Folge | |
des Versuchs war, das System mit überbordendem Kredit am Laufen zu halten. | |
Ausweg aus diesem Pallawatsch? Keiner in Sicht. | |
Damit wolle er keineswegs sagen, dass um einen „mechanischen Zusammenbruch“ | |
kein Weg vorbei führe, schreibt der Professor der New York City University. | |
An Katastrophendeterminismus haben sich schon zu viele Propheten die Finger | |
verbrannt. Doch das System stehe auf des Messers Schneide. Harvey: „Von | |
selber fallen wird es nicht. Man muss es schubsen.“ | |
30 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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