| # taz.de -- Kunstkritiker über Spätkapitalismus: „Unser Schlaf steht im Fok… | |
| > Der New Yorker Kulturtheoretiker Jonathan Crary über Lebenszyklen, das | |
| > Abgreifen von Daten und anregende Träume. | |
| Bild: Büroarbeit bei Nacht. | |
| taz: Auf Kurzstreckenflügen führen Passagiere nun Stopper mit, die den Sitz | |
| der Vorderleute beim Zurückstellen blockieren. In Ihrem Buch „24/7“ | |
| konstatieren Sie, dass Schlafphasen mehr und mehr eingeschränkt werden. | |
| Jonathan Crary: Ihre Nachricht illustriert einen exemplarischen | |
| Interessenkonflikt zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Klassen. Auf | |
| der einen Seite ein Junior Executive, der dazu motiviert wird, immer und | |
| überall zu arbeiten, auch beim Fliegen. Auf der anderen Seite ein | |
| Reisender, der es gewohnt ist zu pausieren. | |
| Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Schlaf denken? | |
| Unser Schlaf ist Überbleibsel einer vormodernen Ordnung, wie sie über | |
| Tausende von Jahren existierte. Erst seit Kurzem kommt es zu Störungen | |
| dieser Zeitlichkeit. Unser Leben ist in Zyklen von Aufwachen, Arbeiten und | |
| Pausieren strukturiert. Und der Prozess der Regeneration ist untrennbar | |
| verbunden mit dem agrarischen Universum, welches auch das soziale und | |
| ökonomische Leben in saisonale Zyklen unterteilt. Nicht nur in den Rhythmus | |
| von Tag und Nacht, sondern auch in den der vier Jahreszeiten. Damit | |
| einhergehend haben wir ein nachhaltiges Verhältnis zur Landwirtschaft und | |
| zu den symbolischen Ordnungen des Lebens entwickelt. Die industriell | |
| geprägte Zivilisation hat bereits viele dieser Muster zerstört. Aber der | |
| menschliche Schlaf ist nicht so einfach modifizierbar, wie es uns die | |
| Wirtschaftswissenschaften suggerieren. Ich sehe den ungestörten Schlaf | |
| durchaus auf sicherem Grund: Er gehört in ein Zeitintervall, das nicht | |
| einfach eliminiert und auch nicht ohne Weiteres kapitalisiert werden kann. | |
| Am Anfang Ihres Essays steht die Dachsammer, ein Sperlingsvogel. Was hat es | |
| mit ihm auf sich? | |
| Seinen Namen habe ich von einer Forschungseinrichtung des | |
| US-Verteidigungsministeriums, dort wird sein Flugverhalten untersucht und | |
| neurobiologisch ausgewertet, denn die Dachsammer kann tagelang fliegen, | |
| ohne zu schlafen. Man hat im Pentagon angenommen, dass man die Techniken | |
| der Dachsammer würde transferieren können, um davon Strategien für Soldaten | |
| abzuleiten, die zwei Wochen im Einsatz wach bleiben sollen. Daran wird die | |
| Logik von politischen Institutionen ersichtlich, die ältere zyklische | |
| Modelle der menschlichen Existenz abschaffen möchten zugunsten eines | |
| Lebensmodells, das kompatibel ist mit dem Dauereinsatz technologischer | |
| Waffensysteme. | |
| Für diese Maßnahmen haben Sie den Begriff „24/7“ gewählt. | |
| 24/7 beschreibt eine Lebensbedingung permanenten Ausgesetztseins. Der | |
| Rhythmus eines öffentlichen Lebens am Tag, das sich mit einem Rückzug ins | |
| Private bei Nacht abwechselt, ist somit abgeschafft. Während wir permanent | |
| erreichbar sind, werden wir auch überwacht. Wir wissen inzwischen, dass wir | |
| als Informationsquellen benutzt werden, dass unsere Daten angezapft, | |
| archiviert und prozessiert werden, ob von Regierungen und ihren | |
| Geheimdiensten oder von großen Unternehmen. Ausgesetztsein bedeutet, dass | |
| wir nicht mehr in eine Schattenexistenz des privaten Alleinseins abtauchen | |
| können. | |
| Sie erwähnen den Science-Fiction-Autor Philip K. Dick und seine | |
| prophetische Sichtweise auf Gedankenkontrolle und polizeistaatliche | |
| Maßnahmen. | |
| Dick hat bereits zu Lebzeiten an seiner Umwelt erkannt, dass die | |
| Konsumgesellschaft den siebziger Jahren immanent war. Seine Einsichten sind | |
| grundlegend, nicht nur, weil er damit beschrieben hat, wie das Leben in der | |
| Konsumgesellschaft funktioniert, sondern auch, wie rasch diese veraltet. | |
| Jegliche Anpassung an unsere objektgesteuerte Welt war für ihn | |
| gleichbedeutend mit ihrem Verfall. Dick fasste die dabei entstehende | |
| Melancholie in Worte und er errechnete auch die psychischen Kosten einer | |
| Welt, die dazu verdammt ist, marode zu sein. Der schöne Schein neuer | |
| Produkte, die wir erwerben sollen, damit unser Dasein erträglicher wird, | |
| verbessert unsere Lebensumstände gar nicht. | |
| Inwiefern wird der Schlaf kommerziell ausgeschlachtet? | |
| Es gibt einen globalen Markt für Psychopharmaka und er expandiert immer | |
| stärker. Unser Schlaf steht im Fokus chemischer Penetration. Er wird | |
| durchflutet von Produkten, die immer raffinierter angereichert werden, weil | |
| die Neurowissenschaften zusehends an der Erforschung von Schlafmechanismen | |
| arbeiten und wie diese durch technologische Interventionen beeinflusst | |
| werden können, etwa durch Medikamente. | |
| Sigmund Freud hat Träume psychoanalytisch durchdrungen, allerdings zu | |
| anderen Zwecken. | |
| Freud wagte Lesarten zum besseren Verständnis von Träumen, was sich aber | |
| auf das Befinden von einzelnen Menschen und Familienverbänden und ihre | |
| Wunschökonomien beschränkte. Ich arbeite dagegen heraus, dass die | |
| Zeitintervalle des Schlafs etwas Größeres repräsentieren. Deshalb bringe | |
| ich die Surrealisten ins Spiel, die in Träume andere Hoffnungen für | |
| menschliche Gemeinschaften setzten als nur für die Struktur der | |
| individuellen Psyche. | |
| Warum war in der Vergangenheit die Darstellung der „schlafenden Schönheit“ | |
| ein beliebtes Motiv in der Kunst? | |
| Es gibt eine lange Reihe von Gemälden, die Schlafende darstellen, | |
| angefangen mit Giorgiones „Schlummernder Venus“. Träume regen seit jeher | |
| die Fantasien bildender Künstler an, sie formen Landschaften aus ihnen oder | |
| betten ihre Träume, ja selbst das Erwachen aus dem Schlaf in ihre | |
| Kunstwerke ein. | |
| Guy Debord schrieb: „Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die | |
| modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure | |
| Sammlung von Spektakeln.“ Beinhaltet dies auch den Schlaf? | |
| Sinngemäß sagt er, das Spektakel repräsentiere den großen Wunsch, weiter | |
| schlafen zu dürfen. Und ersetzt damit eine Maßnahme staatlicher Repression | |
| durch die Metapher vom Schlaf. Die Schlaf-Metapher hat Debord gewählt, um | |
| uns darauf aufmerksam zu machen, dass wir wie Roboter durch den Alltag | |
| wanken, weil wir uns unseres überarbeiteten Zustands gar nicht bewusst | |
| sind. | |
| 10 Oct 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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