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# taz.de -- Buch zu urbanen Konflikten: Unser aller Bühne
> Für den Humangeografen und Sozialtheoretiker David Harvey ist die Stadt
> der Ort, an dem der Kapitalismus sich neu erfindet.
Bild: Ein Tag in einer Rebel City: Berliner Proteste gegen hohe Mieten im Stadt…
Die Wahrscheinlichkeit eines Aufstands wächst mit der Dimension der
städtischen Bauprojekte. So könnte die Protest-Faustformel David Harveys
lauten. Und bisher ist er mit ihr im heiklen Genre der sozialen Prognostik
gar nicht schlecht gefahren: Bereits im Mai hatte der in New York lehrende
Geograf und Gesellschaftstheoretiker Istanbul als den nächsten Protestherd
ausgemacht. Als dort der Kampf um den Gezipark losging, verwies er auf
Brasilien.
Erstaunlich, dass bei den Versuchen, die derzeitige Protestwelle auf den
Begriff zu bringen, sein Name kaum auftaucht, wird doch auch hierzulande
die Verbindung von kriselndem Kapitalismus, boomendem Immobiliensektor,
Mieterhöhungen und der Verdrängung alteingesessener Bevölkerungsschichten
immer spürbarer.
Kaum jemand hat die zugrunde liegenden Strukturen spontaner städtischer
Proteste eindringlicher beschrieben als Harvey und gezeigt, wie sie sich
verstetigen können. Wer mit seinem Werk noch nicht vertraut ist, findet mit
dem Buch „Rebellische Städte“ eine geeignete Einführung.
Das Buch ist ein Hybrid verschiedener Aufsätze, die Harvey seit seinem 1973
erschienenem Buch „Social Justice and the City“ verfasst hat. Es ist nicht
immer einfach zu lesen. Der Humangeograf Harvey rückt eine Analyseebene ins
Zentrum, die bei vielen Marxisten immer noch ein Nischendasein fristet: die
Stadt. Sie ist für Harvey Abbild der kapitalistischen Dynamik von Boom und
Krise.
## Die Urbanisierung als Agentin des Kapitals
##
Da der Kapitalismus nicht darauf aus ist, die Bedürfnisse der Menschen zu
befriedigen, sondern auf dem Streben nach Profit beruht, sucht er ständig
nach Möglichkeiten, diesen Mehrwert zu absorbieren und dessen Entwertung
durch die Krise so lange wie möglich hinauszuzögern. Die Urbanisierung, so
Harveys These, spielt dabei eine entscheidende Rolle. In den Bauprojekten
der Städte findet das Kapital eine vermeintlich sichere und langfristige
Anlage, während die Preisspirale des Immobilienmarkts weitere Profite
verspricht. Die Menschen werden so über steigende Mieten, Transport- und
Unterhaltskosten ein zweites Mal ausgebeutet.
Das war schon Mitte des 19. Jahrhunderts so, als der Stadtplaner
Georges-Eugène Haussmann Paris mit dem Bau von Kaufhäusern, Messen und
Cafés zu einem Zentrum für Konsum und Tourismus machte – von dem die
Ärmeren weitgehend ausgeschlossen waren. Eine ähnliche Entwicklung erkennt
Harvey in der amerikanischen Suburbanisierung der 40er Jahre – oder heute
in China, wo gigantische Staudämme, Straßen, Häfen und Büroparks einer
verarmten Landbevölkerung und Wanderarbeitern gegenüberstehen.
Den Krisen des Kapitalismus geht deshalb häufig eine geplatzte
Immobilienblase voraus, die sich heute in einem global verzahnten
Finanzmarkt schnell zu einer Banken-, Schulden-, Staats- oder Eurokrise
ausweitet. Mit der territorialen Analyseebene ändert sich auch der Ort des
Widerstands: Aufstände wie die Pariser Kommune entstehen eben nicht, wenn
ein paar Fabrikarbeiter streiken, sondern erst, wenn sich die ganze Stadt
an ihnen beteiligt.
Akteure von Veränderung sind für Harvey deshalb Bauarbeiter,
Hausarbeiterinnen, prekär Beschäftigte und Geflüchtete – einfach alle, die
das Leben der Stadt produzieren und reproduzieren und nun die Kontrolle
über den von ihnen erwirtschafteten Mehrwert einfordern. Auf den Plätzen
erkennt Harvey heute das Begehren nach einer anderen Stadt, das sich unter
Henri Lefebvres Slogan „Recht auf Stadt“ organisieren müsste. Harvey sieht
auch die Gewerkschaften in der Pflicht, sich über ihre Lohnkämpfe hinaus an
der Neuorganisation der Städte zu beteiligen.
Wie genau die, auch über die Stadtgrenzen hinaus, aussehen könnte, bleibt
zwar offen. Doch wie für Marx die Verkürzung der Arbeitszeit ein erster
Schritt in Richtung eines menschenwürdigen Lebens war, ist es für Harvey
die Forderung nach angemessenem Wohnraum und einem annehmbaren Lebensumfeld
für alle. Vielleicht ist das heute schon Utopie genug.
24 Sep 2013
## AUTOREN
Sebastian Dörfler
## TAGS
Urbanisierung
Immobilienmarkt
Gentrifizierung
Kapitalismuskritik
Marxismus
Mieten
China
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