Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ökonom Paul Krugman in Europa: Missionar auf Reisen
> Paul Krugman, Nobelpreisträger für Wirtschaft, besucht Europa. Er wundert
> sich über das „Paralleluniversum“ von Schäuble.
Bild: Paul Krugman spricht im Januar 2015 in Hongkong.
BRÜSSEL taz | Der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman
kann polemisch sein, aber er bleibt immer freundlich. Auch diesmal lächelt
er, als er die jüngsten Äußerungen von Finanzminister Schäuble kommentiert.
„Sehr seltsam.“ Kleine Pause. „Schäuble lebt in einem Paralleluniversum.…
Es ist ein Schlagabtausch auf Distanz. Krugman kam an diesem Donnerstag
nach Brüssel, während Schäuble umgekehrt auf dem Weg in die USA war, um an
der IWF-Tagung in Washington teilzunehmen. In einem Meinungsbeitrag für die
New York Times hatte Schäuble schon vorab mitgeteilt, was er auch beim
internationalen Finanztreffen vortragen würde: Die Eurokrise sei vor allem
„eine Vertrauenskrise“. Daher würden Konjunkturpakete „nichts bringen“.
Krugman lächelt, obwohl er an dieser Lernresistenz verzweifelt: „Genau das
Gleiche hätte Schäuble schon vor fünf Jahren schreiben können.“ Krugman
versteht nicht, warum Schäuble nicht versteht, wie isoliert er inzwischen
ist. „Niemand glaubt diesen Unsinn in den internationalen Organisationen.“
Krugman muss es wissen, denn er kennt die Chefs dieser Institutionen
allesamt persönlich. Der 62-Jährige hat mit ihnen am Massachusetts
Institute of Technology (MIT) studiert, das lange Zeit die weltweit wohl
wichtigste Kaderschmiede für Ökonomen war. Zu Krugmans Kommilitonen zählten
unter anderen: Mario Draghi, heute EZB-Chef, Ben Bernanke, langjähriger
Präsident der US-Notenbank (Fed), und Olivier Blanchard, jetzt
IWF-Chefvolkswirt.
## Erfolgreicher Blogger
Krugman selbst war, abgesehen von einem kurzen und obskuren Jahr in der
Reagan-Verwaltung, nie in großen internationalen Organisationen oder in der
Politik beschäftigt. Stattdessen lebt er seine Doppelbegabung aus: Er ist
nicht nur ein bedeutender Ökonom, der jetzt in Princeton lehrt, sondern ein
ebenso glänzender Journalist. Sein Blog bei der New York Times hat schon
mehrfach Preise gewonnen und wird weltweit täglich von Millionen gelesen.
Bei jedem Ranking landet Krugman auf einem der vordersten Plätze – ob es um
die wichtigsten Denker, die einflussreichsten Ökonomen, die bedeutendsten
Keynesianer oder die besten Journalisten geht.
Krugmans Leben ist ein beharrlicher Kampf gegen die gängigen Mythen des
Neoliberalismus. Nach Brüssel war er gekommen, um an dem „europäischen
Gespräch“ teilzunehmen, das die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung
einmal im Jahr ausrichtet. Wieder eine Chance für Krugman, zu erklären,
warum Staatsschulden kein Problem darstellen, Konjunkturpakete nötig sind,
Vollbeschäftigung möglich wäre – und warum die EU-Kommission „nur
gefährliche Ideen ausbrütet“.
Mit Genuss macht er sich über die „Strukturreformen“ lustig, dieses
„gefährliche Wort“, an dem Schäuble und die Troika so hartnäckig
festhalten. „Vor der Krise wurde Irland immer für seine Strukturreformen
gelobt. Als dann die Eurokrise ausbrach, wurde Irland erneut erzählt, es
brauche – Strukturreformen.“
## Argumentative Schützenhilfe
In Europa wäre Krugman „ein Sozialdemokrat“, wie er den versammelten
Gewerkschaftern gleich mehrfach versichert. Aber genau deswegen versteht er
die europäischen Sozialdemokraten nicht. „Sie sind so erstaunlich unwillig,
die Sparpolitik der Konservativen anzugreifen.“ Also übernimmt Krugman
diesen Job. Sein Blog ist bei europäischen Lesern auch deshalb so beliebt,
weil sie dort Argumente finden, die im heimischen Diskurs fast völlig
fehlen.
Krugmans Blog ist eine kunstvolle Mischung aus wissenschaftlichen Analysen
und allgemeinverständlichen Erklärungen, aus Ökonomie und Privatleben, aus
Polemik und nüchterner Betrachtung. Auf den ersten Blick erstaunt, wie sehr
Krugman Details aus seinem Privatleben offenbart. Die Leser wurden prompt
informiert, als seine Hauskatze verstarb, und jetzt dürfen sie daran
teilhaben, wie der Nobelpreisträger „gegen das Alter kämpft“.
Krugman nimmt seit zwei Jahren ab und diskutiert freimütig die diversen
Diätpläne. Er selbst hat sich für die Methode entschieden, zwei Tage pro
Woche zu fasten. Das Ergebnis kommentiert er gewohnt selbstironisch. „Falls
Sie es wissen wollen: Es ist tatsächlich sehr unangenehm. Aber regelmäßiges
Leiden scheint meiner Persönlichkeit zu entsprechen.“
Um seine Erfolge zu kontrollieren, hat er ein Fitbit-Gerät angeschafft, das
die täglichen Schritte und den Kalorienverbrauch zählt. In Brüssel erzählt
er begeistert, dass es übrigens „genau das gleiche“ Fitbit-Gerät sei, das
auch US-Präsident Obama am Handgelenk trägt.
## Bunte Tonne auf dem Rad
Inzwischen hat Krugman 20 Kilo abgenommen, und in seinem Blog erregt er
sich regelmäßig darüber, dass Zeitungen alte Fotos drucken, die nicht sein
neues schlankes Selbst zeigen. Man könnte diese Einträge für eitel halten.
Aber eitel ist Krugman nicht. Ohne Hemmungen postet er Bilder von einer
Radtour, auf denen er in seiner beuligen Regenkleidung wie eine bunte Tonne
aussieht.
Es ist keine Marotte, sondern Methode, dass Krugman über seinen Alltag
berichtet. Seine Leser sollen die Scheu vor der Ökonomie verlieren, denn er
sieht seinen Blog und seine Vorträge als demokratisches Projekt: Jeder
Bürger soll verstehen, wie die Wirtschaft funktioniert. Krugman will
verhindern, dass sich die Eliten widerstandslos bereichern können.
Überhaupt die Eliten. In Brüssel unterbreitet er eine These, die er auch
schon in seinem Blog ventiliert hat. Es sei „keine Verschwörungstheorie“,
warnt er gleich, „vor zehn Jahren hätte ich es selbst nicht geglaubt“. Aber
inzwischen ist Krugman überzeugt, dass die Politiker in den Krisenländern
der Troika-Politik nur folgen, weil es ihnen selbst nützt. Sie werden mit
gut bezahlten Posten in Europa versorgt „und dürfen Reden in Davos halten,
wie wichtig es ist, harte Entscheidungen zu treffen“.
## Abstecher nach Athen
Drei Stunden Schlaf, ein Tag in Brüssel, und dann geht es für Krugman
weiter nach Athen, wo er Premier Alexis Tsipras trifft. Der
Nobelpreisträger will seine Sympathie für ein weiteres Schäuble-Opfer
bekunden. Denn erneut versteht Krugman nicht, was der deutsche
Finanzminister bezweckt. „Die Griechen können ihre Kredite nicht
zurückzahlen.“ Auch sei es völlig sinnlos, noch weitere „Strukturreformen…
bei den griechischen Löhnen zu fordern. „Die Gehälter im privaten Sektor
sind schon um mehr als 20 Prozent gesunken.“
Krugman ist dagegen, dass Griechenland den Euro verlässt. „Das Chaos wäre
enorm.“ Trotzdem hält er den „Grexit“ inzwischen für möglich, weil die
Eurozone unter Schäubles Führung den Griechen nicht entgegenkommt.
Mehr Zeit hat Krugman nicht für die Probleme Europas. Er muss am Montag
wieder in Princeton sein, um seine Studenten zu unterrichten.
18 Apr 2015
## AUTOREN
Ulrike Herrmann
## TAGS
Sozialdemokratie
Wolfgang Schäuble
Ökonomie
Euro-Krise
Paul Krugman
Japan
Griechenland
Schwerpunkt TTIP
Kapitalismus
Marxismus
USA
## ARTIKEL ZUM THEMA
Konjunkturpaket in Japan: Mehr Mindestlohn, weniger Butter
Trotz niedriger Arbeitslosigkeit findet das Land nicht aus seiner
Rezession. Die Verbraucher geben immer weniger Geld aus.
Ökonomische Krise in Griechenland: Haste mal 'ne Million?
Die griechische Regierung pumpt Behörden und öffentliche Unternehmen an:
Sie sollen vorübergehend Finanzreserven überweisen.
Transatlantische Freihandelsabkommen: Verstärkung für die TTIP-Kritiker
Alle Amis wollen die Freihandelsabkommen? Stimmt nicht. Zwar ist Barack
Obama TTIP-Fan, doch jetzt mosern auch ihm nahestehende Promis.
Schlagloch „Phänomen Thomas Piketty“: Revolutionär auf Katzenpfoten
In unparteilicher Pose rechnet Piketty in seinem Buch nach, das
Ungleichheit am Kapitalismus liegt. Seine Antwort ist ein Umsturz ganz ohne
Utopie.
Kapitalismuskritik von David Harvey: Gefährliche Widersprüche
Der Geograf und Ökonom David Harvey ist einer der einflussreichsten
Marxisten. Seine „Kapital“-Vorlesungen sind auf Youtube populär.
Politische Theorie in den USA: Lasst es uns mit Marx versuchen
In den USA wird das Comeback von Marx ausgerufen. Der Starliterat Benjamin
Kunkel erhellt die blinden Flecken des Neokeynesianismus.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.