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# taz.de -- Schlagloch „Phänomen Thomas Piketty“: Revolutionär auf Katzen…
> In unparteilicher Pose rechnet Piketty in seinem Buch nach, das
> Ungleichheit am Kapitalismus liegt. Seine Antwort ist ein Umsturz ganz
> ohne Utopie.
Bild: Nichtrevolutionärer Revolutionär: Thomas Piketty.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! / Es muß ein guter da
sein, muß, muß, muß!“ (Bertolt Brecht)
Am letzten Wochenende musste ich an Karl Kautsky denken. Das war der
Sozialdemokrat, der vor hundert Jahren den Begriff des „Ultraimperialismus“
geprägt hat: eine Ordnung, in der monopolistische Riesenunternehmen durch
universellen Freihandel, zunehmende Kapitalverflechtungen und
-konzentration die Welt „friedlich“ unter sich aufteilen. Die Beschreibung
trifft ziemlich gut die Tendenzen, deretwegen Thomas Pikettys dickes Buch
über das „Kapital im 21. Jahrhundert“ ein Beststeller geworden ist.
Mit einer erschöpfenden Fülle statistischen Materials weist er nach, dass
steigende Ungleichheit kein Ausrutscher, sondern das normale Resultat der
kapitalistischen Marktwirtschaft ist. Pikettys Untersuchung der
Vermögenskonzentration, der globalen Klasse von Superreichen und des
Bereicherungsmechanismus ist kaum zu widerlegen. Er warnt vor den
ökonomischen Krisen und sozialen Unruhen, die daraus folgen werden; sein
Hauptvorschlag: eine globale progressive Steuer auf große Vermögen, um
diese unerwünschten Folgen zu dämpfen und das Geld in Bildung und andere,
notwendige gesellschaftlichen Aufgaben zu stecken. Auf Nachfragen erklärt
er, kein Antikapitalist zu sein und schon gar nicht gegen Eigentum. Wieder
nur ein Arzt am Krankenbett des Kapitalismus?
Pikettys Pose der Unparteilichkeit hat seinen Erfolg ausgemacht. Er
operiert im Rahmen der orthodoxen Wirtschaftstheorie, deshalb ist seine
Wirkung vor allem in der akademischen Welt der USA so groß:
Nobelpreisträger Krugmann nannte „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ das
„wichtigste Buch des Jahrzehnts“, für Weltbankökonomen ist es ein
„Wendepunkt in der ökonomischen Literatur“.
## Bild einer befreiten Gesellschaft
Dass ein dickes, auch kompliziertes Buch, das nachrechnet, was seit Jahren
unter Zeitungslesern Common Sense ist, so Furore machen konnte
(Gesamtauflage 800.000), ist das eigentliche „Phänomen Piketty“. Am letzten
Freitagabend moderierte ich eine Veranstaltung, auf der Piketty, eingeladen
von den Blättern für Deutsche und Internationale Politik und dem Haus der
Kulturen der Welt (HKW), seine Thesen vorstellte.
Es kamen gut und gern zweitausend Menschen, Hunderte mussten draußen
bleiben, der Saal im HKW war überfüllt, das Publikum folgte gute zwei
Stunden Pikettys Ausführungen und der folgenden Diskussion, in der
Hans-Jürgen Urban (IG Metall), Susan Neiman (EinsteinForum) und Joseph Vogl
(„Das Gespenst des Kapitals“) komplexere methodische Fragen erörterten und,
natürlich, die „Was tun“-Frage umkreisten.
Zweitausend, oder mehr, an einem Freitagabend: gut ausgebildete,
multilinguale, zumeist junge Menschen, die zu aufgeklärt sind, um noch an
die Hoffnungen der großen Mehrheit aller Parteien des Parlaments zu
glauben, die das Ende des Wachstums nicht wahrhaben will. Sie sind zu
nüchtern für Revolutionsparolen und wollen sich doch weder in den gängigen
Phrasen der Alternativlosigkeit noch in der „Wir haben doch alle keine
Antwort“-Skepsis einrichten. Und irgendwie haben sie das Gefühl, dass die
Teilnahme an den periodischen Wellen von Protest – Attac, Occupy, Campact
–, die sich immer wieder an der Brandung des Beharrens brechen, nicht
reicht.
Deshalb fiel mir Kautsky ein. Nicht wegen seines „Ultra-Imperialismus“,
sondern Kautsky, der wesentliche Verfasser des „Erfurter Programms“ von
1891 – zu Beginn der „Belle Epoque“, in der Thomas Piketty den vorletzten
Höhepunkt der Ungleichheit lokalisiert. In diesem Programm kamen drei Dinge
zusammen: die Gewissheit kommender schwerster, ja finaler Krisen („der
große Kladderadatsch“); ein Fernziel: der „Zukunftsstaat“, das Bild einer
befreiten Gesellschaft, das August Bebel in den 52 Auflagen seiner „Frau im
Sozialismus“ popularisierte; und, drittens, ein Bekenntnis zur Praxis der
pragmatischen kleinen und mittleren Schritte – aber immer ausgerichtet auf
den Polarstern einer sozialistischen Zukunft. Aussicht auf die Katastrophe,
Fernziel, Anleitung zur Tagespolitik – unter einem Dach, und immer
zusammenzudenken.
## Verstreute Erwägungen
So etwas, ist, hundert Jahre später, nicht im Angebot. Oder doch? Pikettys
Bilanzierung des abflachenden Wachstum erinnert zwar von fern an den
Marx’schen „tendenziellen Fall der Profitrate“, aber seine knochentrocken…
fiskalpolitischen Erwägungen ergeben keinen utopischen Bildungsroman. Dafür
etwas anderes. Über das Buch verstreut finden sich Erwägungen über: globale
Steuern auf die weltweit größten Vermögen und Erbschaften, um die
Akkumulation zu bremsen und die Ungleichheit abzubauen; eine Steuer auf die
Ölprofite, um Investitionen in den Klimaschutz zu finanzieren; eine
politische Kontrolle der großen Staatsfonds und eine progressive
Einkommensteuer zur Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben, vor allem von
Bildung. Weiter: eine Absicherung und deshalb einen Umbau der
sozialstaatlichen Institutionen unter den Zwängen sinkender Wachstumsraten;
eine einmalige Vermögensabgabe der Geldeigentumsbesitzer zur Tilgung der
Staatsschulden; eine gesamteuropäische Steuerpolitik. Und zu allererst:
einen globalen Vermögenskataster, der all das und die Schleifung der
Finanzparadiese ermöglichen würde.
Zusammengenommen ist das keine Utopie, aber ein ziemlich umstürzlerischer
Werkzeugkasten – der Algorithmus dafür dürfte technisch kein Problem sein.
Wie hieß es doch damals: Im Schoße der alten Gesellschaft wachsen das
Wissen und die Produktivkräfte der neuen. Ist Piketty also doch ein
Revolutionär auf Katzenpfoten? Der wissenschaftliche Mitarbeiter eines
kommenden Kautsky?
Fehlte nur noch so etwas wie eine Partei … Ach ja: Am Vormittag des
Freitags beschied Sigmar Gabriel dem jungen Mann, die Vermögenssteuer, die
noch im letzten Wahlprogramm der SPD stand, halte er für tot. Ach ja.
Übrigens hatten die Veranstalter den Abend „Das Ende des Kapitalismus im
21. Jahrhundert“ betitelt. Hundert Jahre sind eine lange Zeit.
11 Nov 2014
## AUTOREN
Mathias Greffrath
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Kapitalismus
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Sudan
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