# taz.de -- Debatte Westen und Islam: Der rote Faden der Kränkung | |
> Die Willkommenskultur ist nur ein Anfang. Oder: Was Hassan al-Turabi und | |
> das Versagen des Westens miteinander zu tun haben. | |
Bild: Hassan al-Turabi: „Ihr habt es kaputt gemacht.“ | |
Wir sind wie Aliens für euch, wie Tiere fast. Irgendetwas Dunkles. Und | |
Dunkelheit macht immer Angst, nicht wahr?“ Der schmächtige Mann in der | |
schneeweißen Galabija lachte grimmig. „Sehen Sie, da steckt das Problem. | |
Wir kennen Ihre Sprache, Ihre Geschichte, Ihre Kultur. Sie wissen nichts | |
über uns. Wir glauben an den Dialog. Aber Dialog heißt doch, man akzeptiert | |
den anderen ...“, er zögerte, dann flüsterte er: „... als fast gleich. | |
Wenigstens das: fast gleich. Sonst kriegen wir es nie geregelt.“ | |
Es ist jetzt zwanzig Jahre her, dass ich in Khartum Hassan al-Turabi traf, | |
lange vor 9/11, Irakkrieg und ISIS. Die Informationen über diesen | |
sudanesischen Muslimbruder waren dünn und verwirrend disparat: der erste | |
Promovierte des Landes, der in Paris und London Jura studiert hatte; ein | |
Islamgelehrter, der für Frauenrechte eintrat und die Fatwa gegen Salman | |
Rushdi verurteilte; ein geistiger Mentor der von den USA finanzierten | |
Mudschaheddin; der Theoretiker einer panarabisch-islamischen | |
Internationale; die graue Eminenz des Präsidenten Baschir. | |
Nachdem sein Büro sechs Tage lang den Termin mit Turabi immer wieder | |
verschoben hatte, war ich am Tag vor meinem Abflug schließlich zu seinem | |
Privathaus im Vorort Hay al-Amariyya gefahren. Ein unbewaffneter Türsteher | |
nahm meine Karte, und verschmitzt lächelnd wie im Orient-Klischee begrüßte | |
mich Turabi. | |
„Sechs Tage hat man Sie warten lassen? Sie hätten eher hierherkommen | |
sollen.“ Und dann verstrickte er mich – Kollegen hatten mich gewarnt – in | |
einen windungsreichen Grundkurs: über die notwendige Historisierung des | |
Koran; über eine islamische soziale Marktwirtschaft „ohne Atheismus, ohne | |
Zinsen und mit intakten Familien“; über die Rolle der Religion bei der | |
Entstehung des Kapitalismus. | |
„Ja, wir sind rückständig. Wir brauchen die Herausforderung, aber wie | |
wollen Sie denn in einem gläubigen Volk mit 120 Stämmen und noch mehr | |
Sprachen anders als mit Religion Arbeitsmoral und Lesen verbreiten, wie | |
Nationen bauen? Die einzige Modernität, die wir kennen, ist der Islam.“ | |
Es wurde, ich kann es nicht anders sagen, ein sechsstündiges, intellektuell | |
anregendes Gespräch. Fragen nach dem Terrorismus schüttelte Turabi lächelnd | |
ab: Ja, er habe den jungen Männern immer wieder gepredigt, sie könnten nur | |
zerstören, nicht aufbauen, aber die Sache in Afghanistan sei aus dem Ruder | |
gelaufen. Und dann schwärmte er metaphernreich weiter: von einer | |
Islamischen Renaissance, die gegen die profane Verwestlichung ebenso wie | |
gegen die korrupten alten Oberschichten und Militärs eine kulturelle und | |
politische Erneuerung entfachen würde. | |
## „Ihr habt es kaputt gemacht“ | |
„Wir haben euch etwas anzubieten“, flüsterte er werbend, und als ich ihm | |
entgegenhielt, für solche Intellektuellenträume von Modernität ohne | |
Individualismus und Pluralität und Kälte und Kapitalismus sei der Zug schon | |
abgefahren, wurde er wütend: „Nein, wir werden euch Westler nicht hindern, | |
den Weg des Mammons zu gehen, aber es geht anders. Wir haben es gezeigt: | |
Wir waren eine entwickelte Gesellschaft, modern, mit Hunderten von | |
Universitäten, mit Banken und Wasserleitungen und Kultur und Toleranz. Mit | |
Gemeinschaften, die Menschen halten. Aber ihr habt es kaputt gemacht.“ | |
Wir? – „Ja, ihr Europäer“, zischt er da über den Tisch, „ihr habt es | |
zerschmettert.“ | |
Wann? „Vierzehnhundertzweiundneunzig.“ | |
Da wurde er unter allem Lächeln plötzlich sichtbar: der jahrhundertelange | |
rote Faden der Kränkungen, der Fremdherrschaft, der Ausbeutung, der | |
Missachtung. Und des Verrats durch den Westen: von Lawrence von Arabien | |
über den CIA-Putsch gegen den iranischen Präsidenten Mossadegh bis zum | |
Golfkrieg, in dem sich westlicher Ölhunger mit der reaktionären | |
Familiendiktatur der Saudis verband. | |
Historische Wunden, die in einer mündlichen Kultur viele stärker | |
gegenwärtig waren als in unserer, die das historische Gedächtnis im | |
Medienbrei erstickt. Als ich, zugetextet und leicht betäubt, aus dem Haus | |
ging, brachte mich sein Neffe zum Taxi. „Warum sind wir für euch die | |
Bösen?“, fragte er mich. Und da er sehr jung war und kein Diplomat, setzte | |
er hinzu: „Wir wollen doch nur sein wir ihr.“ | |
Das war, wie gesagt, vor 20 Jahren. Nichts hat der zerfledderte Westen | |
seither „geregelt“ bekommen. Aber an Turabis „wenigstens fast | |
gleichberechtigt“ und an dieses gemurmelte „Wir wollen doch nur sein wir | |
ihr“ seines Neffen musste ich denken, als ich vor zwei Wochen in der Zeit | |
Bernd Ulrichs Frage las: „Haben sich Franzosen, Deutsche, Briten, Italiener | |
und Amerikaner eigentlich jemals offiziell entschuldigt bei den Menschen in | |
Nordafrika? Für den Kolonialismus? Nein? Und warum nicht?“ | |
## Macht der Erinnerung | |
Die Frage ist gut, aber Jahrzehnte zu spät und politisch naiv, denn | |
historische Schuld anzuerkennen zieht Forderungen nach sich. Aber noch | |
naiver wäre es anzunehmen, dass sie dort vergessen haben. Zu glauben, dass | |
korrupte Eliten nicht weiterhin mit diesen Erinnerungen Politik machen; | |
naiv anzunehmen, dass sich nicht auch nach der Zerschlagung des IS aus den | |
arbeitslosen und armen Massen Terroristen rekrutieren und mit diesen – | |
falschen wie gefälschten – Erinnerungen nähren werden. Und am naivsten zu | |
glauben, dass wir mit drei Milliarden oder sechs oder neun Milliarden | |
Tribut die Türkei und einige nordafrikanische Staaten auf Dauer zu | |
wirksamen Türstehern Europas machen können. | |
Kein Zweifel: Die nächste Zukunft wird vom Dreiklang aus Asylgewährung, | |
wenig wirksamen Grenzkontrollen und militärischen Schlägen gegen das | |
Terrorkalifat bestimmt sein. Die Globalisierung komme jetzt „in unser | |
Haus“, sagte die Kanzlerin neulich, und „wir“ würden jetzt unseren Beitr… | |
liefern müssen. Solche Sätze und der humanitäre Betriebsunfall der | |
Willkommenskultur sind ein zaghafter Anfang, in der Gegenwart zu landen, | |
aber Globalisierung heißt eben auch Globalisierung der Erinnerungen – und | |
der Zukunft. | |
„Offizielle Entschuldigungen“ wären da eine schöne Geste, aber der | |
Kontenausgleich, der folgen muss, wird ungleich härter sein als ein | |
Warschauer Kniefall. | |
5 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
mathias greffrath | |
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