# taz.de -- Debatte Europäische Flüchtlingspolitik: Yes, wir können | |
> Von Winston Churchill lernen, heißt siegen lernen. Vor allem heißt es, | |
> Krisen als Chancen zu erkennen, um Gesellschaft neu zu verhandeln. | |
Bild: Und jetzt alle zusammen... | |
„Never let a good crisis go waste.“ Der lakonische Ratschlag von Winston | |
Churchill verweist darauf, dass es der Politik nur in Ausnahmezuständen | |
gelingt, die Gewohnheiten und Erwartungen einer ganzen Gesellschaft | |
tiefgreifend zu verändern, zum Notwendigen oder zum Schlimmeren. | |
Die Geschichte ist voll von ungenutzten Krisen. Vor allem von links | |
gesehen. Der Fall der Mauer: verpasst die Chance, die Demokratie zu | |
vitalisieren, Steuersystem, Arbeitsverfassung und Eigentumsordnung zu | |
modernisieren. Klimaschock und Fukushima: nicht genutzt für wirklich große | |
Schritte in die postfossile Gesellschaft. Die Bankenkrise, ihr folgend das | |
Schulden- und Eurodesaster: Nichts bleibt, wie es vorher war, tönte es von | |
rechts bis links – und am Ende nicht einmal eine Finanztransaktionsteuer. | |
Stattdessen eine unlegitimierte Nebenregierung, Eurogruppe genannt, eine | |
„Rettungspolitik“, die mit 1.800 Milliarden Euro den Riss durch Europa | |
zementiert, die Finanzmächte stabilisiert und eine Generation europäischer | |
Jugendlicher geopfert hat. | |
Und nun die sogenannte Flüchtlingskrise. Die Kanzlerin hat mit ihrem | |
Bekenntnis zu (kontrolliertem) Asylrecht und (temporärer) Grenzöffnung, vor | |
allem aber mit ihrem nüchtern eingedeutschten „Yes we can“ die Stimmung des | |
linksliberalen Deutschland ausgedrückt. Das hat sie neun Beliebtheitspunkte | |
gekostet, dafür Liebeserklärungen linker Kommentatoren eingebracht. Ihr | |
„Plan“ zielt zunächst auf eine ordentliche Unterbringung frierender | |
Migranten, beschleunigte Verwaltungsverfahren, Sprachkurse, Wohnungsbau – | |
und geldbestückte Gespräche mit der Türkei, um Notleidende vom Weiterreisen | |
abzuhalten. Das ist nicht wenig. | |
Aber selbst wenn all das und dazu eine europakompatible Verteilung der | |
Flüchtlinge gelänge: Die Völkerwanderung wird es nicht aufhalten. Weder die | |
aus den durch Imperialismus, Kalten Krieg und Ölhunger zerbröselnden failed | |
states noch die aus den durch Gewalt und Dürre verwüsteten Hungerregionen | |
Afrikas. Einen „Plan B“, der die Herausforderungen formuliert, die in den | |
kommenden Jahrzehnten auf ein demokratisches Westeuropa zukommen, das seine | |
Sozialstaatlichkeit schon jetzt nicht mehr durch garantiertes Wachstum | |
sichern kann – einen solchen Plan hat zur Zeit niemand, der nicht nur mit | |
Gedanken, sondern mit Macht hantiert. | |
## Begeisterung für Fernziele nähren | |
„Die europäischen Völker haben ihren hohen Lebensstandard der direkten oder | |
indirekten Ausbeutung der farbigen Völker zu verdanken“, so schrieb es der | |
hellsichtige George Orwell 1947. Den Bevölkerungsmassen der alten | |
europäischen Mächte sei „nie klargemacht worden, dass sie, gemessen am | |
globalen Standard, über ihre Verhältnisse leben“. Gerade wird es uns | |
klargemacht. Eine Minderung ihres gewohnten Wohlstands aber ertragen | |
Menschen nur, wenn sie keine Alternative sehen. Oder ein lockendes Ziel für | |
die Verluste eintauschen können. | |
Begeisterung für Fernziele zu nähren, diese mit realistischen Schritten zu | |
verbinden – das war die Stärke der alten, der Bebel’schen Sozialdemokratie. | |
Aber das war einmal. Gianis Varoufakis, der jüngst in Berlin für einen | |
„Plan B für Europa“ und eine Neubesetzung der politischen Leerstellen warb, | |
hatte tausend Zuhörer, aber erntete in der verfassten Öffentlichkeit | |
bestenfalls ironische Kommentare. | |
Dabei lassen sich für eine Behauptung der europäischen Werte im 21. | |
Jahrhundert die großen Ziele und die kleinen Schritte durchaus angeben. | |
Eine Demokratisierung der arkanen Machtzentren Eurogruppe und EZB als | |
Voraussetzung einer paneuropäischen Sozial- und Fiskalregierung; soziale | |
Mindeststandards, die Überwindung der strukturellen Arbeitslosigkeit; eine | |
Reform der Welthandelsordnung; eine gesamteuropäische Industrie- , Energie- | |
und Medienpolitik. Blaupausen für ein solches Europa gibt es zuhauf, in der | |
Zivilgesellschaft werden sie diskutiert, in den Politikerbüros abgelegt, in | |
Brüssel von den nationalen Eliten und den Lobbys der Finanzmächtigen | |
blockiert. | |
Aber wenn Churchills Satz mehr ist als ein bloßes Bonmot: Was, wenn nicht | |
die Dramatik der Migrantenströme, wäre geeignet, neue linke Energien zu | |
entzünden? Wann, wenn nicht jetzt – im Tiefpunkt der Desillusionierung über | |
das neoliberale Europa und in der Gewissheit, dass nichts bleiben wird, wie | |
es ist – bestünde die Chance der millionenfachen Bereitschaft, eine | |
veränderte Gegenwart zu gestalten, neue Foren und Formen zu geben? Das | |
Anti-TTIP-Bündnis vergangenen Samstag lässt hoffen. Aber Projekte kann man | |
nachhaltig nicht mit Manifesten und Demonstrationen, sondern letztlich nur | |
mit Projekten bekämpfen. | |
## Feudalismus und Barrikaden | |
Veränderte Mentalitäten wachsen nicht aus „Wertegemeinschaften“, sondern | |
aus gemeinsamem Handeln. Aus dieser Erkenntnis heraus schlug Jacques Delors | |
gleich nach dem Ende des gefälschten Sozialismus große europäische | |
Industrieprojekte vor, etwa mit Hochgeschwindigkeitstrassen von Lissabon | |
über Berlin und Warschau nach Moskau. Und er plädierte für ein | |
grenzübergreifendes Sozialjahr für junge Europäer. | |
Migrationsschub, anhaltende Jugendnot und schrumpfendes Wachstum sind | |
vielleicht keine schlechte Zeit, um alte Blaupausen wieder herauszuholen: | |
nicht nur die industriepolitischen und die vom paneuropäischen Sozialjahr. | |
Und wer? Es gibt Tausende von Projekten in Europa, kleine und mittelgroße, | |
die sich in eine „große Strategie“ einpassen ließen, Millionen von Bürge… | |
tragen sie. Vielleicht ist es an der Zeit, ihnen eine politische Form zu | |
geben. Und das a tempo. Damit nicht die anderen die Krise nutzen. Das hat | |
schon wieder angefangen: etwa mit der „sinnigen“ Idee, den Flüchtlingen die | |
Integration zu erleichtern durch die Abschaffung des Mindestlohns. | |
„Sie und ich und Ihre Leser“, so sagte es „Deutschlands einflussreichster | |
Ökonom“ der Zeit, „werden die Gewinner der Zuwanderung sein. Wir werden | |
leichter an eine Putzfrau kommen oder unser Auto waschen lassen.“ Es wäre | |
der Weg in die Refeudalisierung Europas. Auf den Feudalismus folgten die | |
Barrikaden. Stellen wir uns also darauf ein. | |
14 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Mathias Greffrath | |
## TAGS | |
Schwerpunkt TTIP | |
Migration | |
Schwerpunkt Flucht | |
Sozialdemokratie | |
Yanis Varoufakis | |
Sudan | |
Frankfurt am Main | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Flucht | |
Sozialwohnungen | |
SPD | |
Flüchtlinge | |
Schwerpunkt Flucht | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Varoufakis’ neue Bewegung: Veteranen um Mitternacht | |
Setzt Varoufakis eine neue soziale Bewegung in Gang? Auch in der | |
Stammkneipe lässt sich gut über einen gerechteren Staat debattieren. | |
Debatte Westen und Islam: Der rote Faden der Kränkung | |
Die Willkommenskultur ist nur ein Anfang. Oder: Was Hassan al-Turabi und | |
das Versagen des Westens miteinander zu tun haben. | |
Flüchtlinge in Frankfurt: Ohne Freiwillige geht gar nichts | |
Die Organisation „Welcome Frankfurt“ kümmert sich um Flüchtlinge. Ihre | |
Mitglieder sehen sich als Helfer – und als politische Aktivisten. | |
Kommentar Flüchtlingsdeal mit Türkei: Ein absolutes Armutszeugnis | |
Erdoğan soll Flüchtlinge abwehren. Im Gegenzug fordert er Geld und | |
Anerkennung. Die EU darf seine undemokratische Politik nicht belohnen. | |
Gipfel von EU und Türkei: Flüchtlinge sollen in der Türkei bleiben | |
Bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise spielt die Türkei eine tragende | |
Rolle. Mit ihr einigt sich die EU nun auf einen Aktionsplan. Viele Probleme | |
bleiben offen. | |
Flüchtlinge in Niedersachsen: „Am Arsch der Welt“ | |
Das Dorf Sumte hat etwa 100 Einwohner. Nun soll es 1.000 Flüchtlinge | |
aufnehmen. Dafür fehle schlicht die Infrastruktur, sagt der Bürgermeister. | |
Unterkünfte für Flüchtlinge: Erst einmal ohne Balkon und Aufzug | |
Es mangelt an Unterkünften für Flüchtlinge, aber auch an Sozialwohnungen | |
für Geringverdiener. Architekten tüfteln an variablen Lösungen. | |
Kommentar SPD in der Flüchtlingsdebatte: Nervöse Sozialdemokraten | |
Die SPD ist in der Flüchtlingsfrage wankelmütig. Sie droht zwischen der | |
Union, der AfD und den Grünen zerrieben zu werden. | |
Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland: Trotz Kälte in Zelten | |
Allein in den Unterkünften der Bundesländer sind rund 42.000 Flüchtlinge in | |
nicht winterfesten Zelten untergebracht. Hessen hat den größten Anteil. | |
Gesetzespaket zum Asylrecht: Der große Asylmurks | |
Das neue Asylrechtspaket soll am 1. November in Kraft treten. Fachverbände | |
kritisieren einen „Rückfall in die Steinzeit“. Hier ein paar Beispiele. |