| # taz.de -- Schlagloch Kapitalismus: Tötet Angela Merkel ... | |
| > ... oder ich lasse den Hund auf eure Warhols pissen! Denn die Wahrheit | |
| > ist: Ein Menschenleben ist weniger wert als ein künstlerisches | |
| > Anlageobjekt. | |
| Bild: Angela Merkel. | |
| Nein, keine Sorge: Ich habe gar keinen Hund. Und ihr habt auch gar keine | |
| Warhols, jedenfalls keine echten, auf die ein Hund sowieso nicht pissen | |
| könnte, weil sie zu hoch hängen. (Dies ist nur eine Hommage an | |
| Schlingensiefs „Tötet Helmut Kohl“). | |
| Wir reden hier auch nicht über Merkel und Warhol, sondern über das | |
| dreifache Gesicht des „kapitalistischen Realismus“. So wie der | |
| „sozialistische Realismus“ ein Idealbild kollektiver Anstrengung für eine | |
| strahlende Zukunft erzeugen sollte, um zur gleichen Zeit alle westliche | |
| Dekadenz und den arbeitenden Massen fremde Abstraktion zu meiden, so | |
| erzeugt der kapitalistische Realismus ein Trashbild individueller | |
| libertärer Obszönität für eine mehr oder weniger glamouröse Gegenwart bei | |
| gleichzeitiger Meidung aller ethischen und ästhetischen Begrenzungen. | |
| Kapitalistischer Realismus erzählt von der Freiheit, die man sich | |
| herausnehmen kann, wenn man in der Position dazu ist: Das hier ist mein | |
| Kommentar, und ich mach damit, was ich will. Solange man ihn mir abkauft. | |
| Und ich sage in möglichst lärmiger Form die unangenehme Wahrheit: Dass es | |
| in diesem System vollkommen normal ist, dass ein Menschenleben weniger wert | |
| ist als ein künstlerisches Anlageobjekt. | |
| Würde ich meinen Hund allerdings dazu bringen, einen Warhol anzupinkeln, | |
| wäre er selbst Instrument eines zweiten kapitalistischen Realismus. Nämlich | |
| des Eingriffs in eine „Wertschöpfungskette“. Das Ruinieren durch Urinieren | |
| wäre Kunst, wenn auch eine wertmindernde. Allerdings kann man sich durchaus | |
| einen Kunstmarkt vorstellen, der den „Pissed Warhol“ in den Rang eines | |
| Metakunstwerks höbe. Es käme, vielleicht, auf den Hund an. | |
| ## Der Hund als Künstler | |
| Und wenn tatsächlich jemand auf die Idee käme, Angela Merkel anzugreifen? | |
| Auch dann fände sich gewiss jemand, der das Attentat zum Kunstwerk erhöbe, | |
| ganz wie beim Anschlag auf die Twin Towers, die mancher als „größtes | |
| Kunstwerk“ gefeiert hat. Was ein Skandal war, aber auch den Kern dieser | |
| Kunst- und Lebenshaltung zeigte: Ein Effekt ist immer bedeutender als | |
| Menschenleben. | |
| Dass kapitalistischer Realismus inhuman ist, offenbart sich selbst in | |
| seiner dritten, der langweiligsten Variante, nämlich der Ästhetisierung und | |
| Dramatisierung des Einverstandenseins. Dieser kapitalistische Realismus | |
| will weder etwas „Realistisches“ über das System (Ideologie und Praxis des | |
| Neoliberalismus) aussagen, noch will er dessen Effekt- und Spektakelsucht | |
| für die eigenen Absichten nutzen. Er geht nur davon aus, dass Mitmachen | |
| besser als Draußenbleiben ist. Dieser kapitalistische Realismus übernimmt | |
| die drei großen Dogmen des Neoliberalismus: | |
| 1. Es gibt keine Alternative. | |
| 2. Wer verliert, ist selber schuld. | |
| 3. Die Antwort auf eine Krise der Kapitalisierung ist noch mehr | |
| Kapitalisierung. | |
| Den kapitalistischen Realismus gibt es in den begeisterten Formen (Kunst, | |
| die die Lebensräume der Superreichen dekoriert), mehrheitlich indes in | |
| fatalistischen, zynischen und nihilistischen Varianten. Hier vereinen sich | |
| Ästhetik, Glaube und Macht. Der kapitalistische Realismus wird zur | |
| Grundüberzeugung, zur Metaphysik und zur Ikonografie des Menschen unter dem | |
| Neoliberalismus. | |
| Womit wir bei Gerhard Schröder wären. Er ist so etwas wie der „Johannes der | |
| Täufer“ des Neoliberalismus im Allgemeinen, des Merkelismus im Besonderen. | |
| Seine Politik des „Da kann man nichts machen“ ist, wie nun mehr als | |
| deutlich wird, die andere Seite des „Nimm, was du kriegen kannst“. Reden | |
| wir nicht über Moral und Bewusstsein, reden wir über den späten Gerhard | |
| Schröder als Gesamtkunstwerk des kapitalistischen Realismus. | |
| Er vereint in sich alle drei Varianten. Sein Verhalten, seine „Performance“ | |
| weist auf ein ungeklärtes Problem in der Entwicklung von Finanzkapitalismus | |
| und Postdemokratie hin, das, verborgen genug, schon im „Bimbes in | |
| Tüten“-Happening von Helmut Kohl anklang: Sollen die Vertreter des | |
| postdemokratischen Regierens Erfüllungsgehilfen oder besser Mitglieder der | |
| neuen Oligarchen-Klasse sein, die die Welt unter sich aufteilt? | |
| Beziehungsweise: Wie viel Millionen muss ein Politiker oder Expolitiker | |
| bekommen, damit sich kein Widerspruch zwischen „armem“ Politiker und | |
| reicher Klasse auftut? Das kapitalistisch-realistische Gesamtkunstwerk | |
| Gerhard Schröder jedenfalls zeigt auf, dass die Sehnsucht nach dem | |
| Dazugehören, das sich im kapitalistischen Realismus nun einmal in Geld | |
| ausdrückt, stets größer ist als traditionell an Gesetz und Transparenz | |
| gebundenes Regierungshandeln. Nicht „Reichsein“ ist der Kern dieser | |
| Installation, sondern „Zu-den-Reichen-Gehören“. | |
| ## Kommt zu spät zum Meeting | |
| Kapitalistischer Realismus ist auch das Wesen unserer Mainstream-Medien. | |
| Deshalb betreiben sie, was die Ukraine anbelangt zum Beispiel, ein | |
| aktionistisches Phantasma; was die eigenen sozialen Konflikte belangt, eine | |
| radikal parteiische Projektion: Das Subjekt ist nicht länger der | |
| arbeitende, sondern vielmehr der konsumierende Mensch; nicht der | |
| kämpferische, sondern der funktionierende Mensch. Was interessiert mich das | |
| Tarifrecht, wenn ich zu spät zu meinem Meeting komme? Kapitalistischer | |
| Realismus als Street-Art ist die großformatige Stilisierung endlich | |
| befreiter Selbstsucht. | |
| Daher betreibt der kapitalistische Realismus der Mainstream-Medien eine | |
| schrille Performance zugunsten der neuen Verhältnisse: die Gier nach neuen | |
| Märkten, einschließlich neuer, billiger Arbeitskräfte, die weiterhelfen, | |
| die Arbeit im Wirtschaftsraum zu entwerten, und den Hass auf Gewerkschaften | |
| und deren Widerstand gegen diese Entwertung. Der kapitalistische Realismus | |
| zeigt, dass die Arbeit keine Chance gegen das Kapital hat. Seine Kunst nun | |
| liegt darin, dies in gefällige Bilder und Geschichten zu verwandeln. Und | |
| damit alle zu erreichen. | |
| Wie jede Kunstrichtung, so ist auch der kapitalistische Realismus durchaus | |
| endlich. Es gibt Alternativen. Die Verlierer müssen nur aufwachen. Die | |
| Kapitalisierung der Welt ist nicht durch Schicksal, sondern durch | |
| Propaganda vorgeformt. Etwas Besseres als den ästhetischen und geistigen | |
| Tod finden wir allemal. | |
| 21 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Georg Seesslen | |
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