# taz.de -- Schlagloch Rassismus: Der Wert weißen Lebens | |
> Dieser Tage wird es wieder mal sehr deutlich: Es gibt zwei Sorten von | |
> Toten. Einige sind uns mehr wert als andere, die weit weg sind. | |
Bild: Solange nur Menschen in Afrika von Ebola betroffen waren, hielt sich unse… | |
Es gibt kein unwertes Leben; das sagt sich leicht. Doch wird der Wert eines | |
Lebens ganz unterschiedlich bemessen. Offensichtlich wird dies spätestens, | |
wenn es um den Wert eines Toten geht. | |
Im alten Siam (heute Thailand) war dieser Wert präzise bezifferbar. Die | |
Richter beurteilten Mord ebenso wie Körperverletzung nach einer Tabelle von | |
Würdepunkten: Das Leben eines Rikschafahrers war weniger wert als der | |
kleine Finger eines Prinzen. | |
In einigen islamischen Ländern können die Angehörigen eines Mordopfers von | |
der Täterseite als Entschädigung ein sogenanntes Blutgeld verlangen; eine | |
tote Frau ist dann weniger wert als ein toter Mann. | |
All dies erscheint uns natürlich monströs. Bei uns bestimmen die | |
Nachrichten den Wert der Toten. Jeder Neuling im Mediengewerbe hört | |
irgendwann diese Regel: Ein Toter in Köln ist wie zehn Tote in England oder | |
hundert Tote in Brasilien oder 1.000 Tote in Afrika. Die Regel hat | |
Varianten: bei Indern möglicherweise eine Null mehr als bei Brasilianern, | |
und was Afrika betrifft, können ohnehin nur Höchstzahlen die Mauer aus | |
Gleichgültigkeit leise erschüttern. | |
Es mag uns Menschen eigen sein, dass uns nahes Leid mehr berührt als fernes | |
Leid. Im nächsten Schritt bringen wir eher Empathie auf für jene, die uns | |
nahe scheinen, weil wir sie für uns ähnlich halten. Etwa weil sie weiß sind | |
oder christlich. Oder weil sie an Orten leben, die wir eben noch für | |
touristisch besuchbar hielten. Die Grenze zum Rassismus ist fließend. Es | |
handelt sich um einen Rassismus, der den allermeisten von uns Europäern | |
innewohnt, selbst wenn sich unser Verstand eurozentrischen | |
Weltbetrachtungen widersetzt. | |
Entfernung, kulturelle Zugehörigkeit, Hautfarbe, das sind in unserer | |
Wahrnehmung vom Wert des Lebens und der Toten die stillen, beständigen | |
Kriterien; als Standardmöblierung unseres Haushalts der compassion nehmen | |
wir sie kaum wahr. | |
Offensichtlicher ist das saisonal Wechselnde: die politischen Interessen | |
des Westens. Sie bestimmen, wie viel uns das Leid der anderen tatsächlich | |
angeht und wie viel Tote nötig sind, um sie als Aufforderung zum Handeln zu | |
begreifen. Und selten tritt all dies so krass zu Tage wie in diesen Wochen. | |
Syrien und Irak: Die Toten in ein und derselben Region sind von ganz | |
unterschiedlicher Wertigkeit – je nachdem, welches Verhältnis der Westen zu | |
den Mördern hat. Die Opfer der Terrormiliz des sogenannten Islamischen | |
Staats sind an Zahl gering im Vergleich mit den Opfern von Baschar al-Assad | |
–dennoch ist IS nun das Böse pur, von dessen Bekämpfung „die Zukunft der | |
Menschheit“ abhänge (Obama). | |
## Assad und seine Opfer | |
Drei Jahre lang ist zuvor eine endlose Reihe von weiß eingehüllten | |
Kinderleichen an den müden Augen des Westens vorbeigezogen. Die Indifferenz | |
gegenüber den syrischen, meist muslimischen Opfern ist nur durch den | |
Umstand zu erklären, dass Assad als säkularer Herrscher gilt, den der | |
Westen möglicherweise noch braucht. | |
Gewiss: Einige couragierte Journalisten und Journalistinnen haben immer | |
wieder auf das Ausmaß von Assads Kriegsverbrechen hingewiesen. Doch erst | |
die vor IS flüchtenden Jesiden gaben in allen großen Medien und zur | |
Hauptsendezeit dem Leid in der Region ein Gesicht, das die Betrachter | |
rührte. | |
Die Jesiden wurden gejagt eines Glaubens wegen, der irgendwie nicht zum | |
Islam zu passen schien; damit hatten sie ein Anrecht auf Empathie. Und | |
dann, nach drei Jahren namenlosen Sterbens, setzte die Hinrichtung von drei | |
weißen Westlern einen westlichen Feldzug in Gang. | |
Das 21. Jahrhundert kennt durchaus ein Äquivalent zu jener Tabelle von | |
Würdepunkten, nach denen die Richter im feudalen Siam verfuhren. Der Tod | |
von Hunderttausenden kann ein geringes Gewicht auf der Waagschale sein; der | |
Tod von drei Menschen hingegen kann schwer wiegen, wenn durch ihre | |
provokativ choreografierte Hinrichtung die kollektive Würde des Westens | |
berührt wird. Sie sind, im siamesischen Bildnis, die Prinzen. Und die | |
syrischen Kinder sind wie der kleine Finger eines Rikschafahrers. | |
## Schwarze Ärzte zählen nicht | |
Subjektiv mag das niemandem im Westen gefallen. Manche beschämt es. Doch | |
ist unser öffentlicher Echo-Raum so konstruiert, dass weißes, westliches | |
Leben stets höherwertig erscheint; seine gewaltsame Beendigung ist | |
tendenziell ein globales Ereignis. IS hatte leichtes Spiel, auf diese | |
Wirkung zu setzen. Wenn man sich vorstellt, Schlagzeilen seien wie | |
Grabsteine, dann war für den syrischen Journalisten, den die Terrormiliz | |
tötete, bei uns kein Grabstein zu haben, weil zur selben Zeit westliche | |
Journalisten hingerichtet wurden. | |
Sie waren Helden; der syrische Kollege starb gewohnheitsmäßig. So wie die | |
irakische Menschenrechtsanwältin Samira Saleh al-Naimi, vom IS exekutiert | |
an jenem Tag, als in Algerien der französische Bergführer Hervé Gourdel | |
enthauptet wurde. Nur Gourdel stand im Lichtkreis unserer Empathie. | |
## Exekutionen sind keine IS-Erfindung | |
Das ganze Ausmaß der Ebola-Epidemie wurde erst zur Kenntnis genommen, | |
nachdem ein weißer Arzt dem Virus erlag. Als sei die Seuche erst in diesem | |
Moment eine unabweisbare Realität geworden. Und nicht, als schwarze Ärzte | |
starben. Auf Twitter kam dieser Tage ein altes Foto an mir vorbei: Eine | |
öffentliche Reihen-Hinrichtung indischer Kolonialsoldaten durch britische | |
Offiziere im Ersten Weltkrieg; die indischen Muslime hatten sich geweigert, | |
gegen das Osmanische Reich zu kämpfen. | |
Exekutionen als Propagandamittel sind keine Erfindung von IS. Aber das Bild | |
erinnert noch an anderes: In unserem Gedenken der beiden Weltkriege kommen | |
die außereuropäischen Opfer immer noch nicht vor. Es waren Millionen – alle | |
keine Prinzen. | |
So abstoßend Enthauptungsvideos sind: Wie sieht es aus, wenn die Kinder von | |
Flüchtlingen vor den Augen der Eltern in den Fluten des Mittelmeers | |
versinken? Die Zivilisation, die gegen IS verteidigt wird, schickt keine | |
Armada zur ihrer Rettung. Es sind Tote, die nichts bewirken. Keine Prinzen. | |
Wer auf einer Weltkarte sieht, welche Länder die meisten Flüchtlinge | |
aufnehmen, könnte glauben: Der Wert des Lebens gilt mehr außerhalb von | |
Europa. | |
17 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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