# taz.de -- Debatte Totalitäre Feindbilder: Islam, Terror und Faschismus | |
> Wenn Erdogan Twitter verbietet, ist der Aufschrei lauter, als wenn Assad | |
> Kinder foltert. Die Erregung der westlichen Welt wird dabei nicht | |
> zufällig verteilt. | |
Bild: Auch dieser Mann auf dem Tahrir ist vermutlich ein Feindbild für irgendj… | |
Wer die These aufstellt, der Islam habe eine quasi religionsgenetische Nähe | |
zum Faschismus, kann sich der Aufmerksamkeit sicher sein, umso mehr, wenn | |
er oder sie selbst muslimischer Herkunft ist. Das echte Leben wirft | |
hingegen in diesen Wochen zwischen der Präsidentschaftswahl in Algerien und | |
jener in Ägypten eher folgende Frage auf: Wann überschreitet der | |
Antiislamismus, auch Antiterrorismus genannt, die Grenze zum Faschismus? | |
Den Spieß derart herumzudrehen ist keine Provokation um der Provokation | |
willen. Was in Ägypten geschieht, wo die Muslimbrüder zur Vorlage für ein | |
totalitäres Feindbild wurden, verlangt nach Analyse und nach Begriffen. | |
Solange es um religiös verbrämte Untaten geht, schrauben sich die Worte | |
leicht hoch. Doch sie werden seltsam kraftlos bei der Bezeichnung säkularer | |
Unterdrückung in muslimischen Ländern. | |
Wie also soll man Ägyptens neues Antiterrorgesetz nennen? Es arbeitet mit | |
einer beispiellos umfassenden Definition: Jedwede Störung der „öffentlichen | |
Ordnung“, schon das Beschmieren eines Denkmals kann ein terroristischer Akt | |
sein. Ein Willkürgesetz für einen repressiven Militärstaat – mit bereits | |
16.000 Verhafteten, mit Journalisten im Anklagekäfig vor Gericht, mit 500 | |
Todesurteilen in einem zweistündigen Schauprozess. Und mit Entzug des | |
passiven Wahlrechts für die Muslimbrüder. | |
Die Generäle am Nil missachten alle Lehren aus dem algerischen Trauma. Das | |
begann vor 22 Jahren, als ein Flügel der Armee den Abbruch von Wahlen | |
erzwang, um den Sieg der Islamisten zu verhindern. Heute wirkt der sieche | |
Bouteflika, Mann des Militärs, Präsidentendarsteller ohne Ton, wie das | |
Symbol einer fortgesetzten Tragödie. Das ägyptische Militär kombiniert die | |
politische Macht noch unverhüllter mit seiner ökonomischen, kontrolliert 40 | |
Prozent der nationalen Wirtschaft; sein Budget geheim, ungeprüft, | |
steuerfrei. | |
Wie es zu Ägyptens Absturz in die Militärautokratie kam, wird von Legenden | |
vernebelt. Die US-amerikanischen Nahost-Experten Shadi Hamdi und Meredith | |
Wheeler untersuchten die Regierungszeit von Mohammed Mursi jüngst anhand | |
von Parametern, die in der Politikwissenschaft üblich sind, um die | |
Entwicklung von Übergangsgesellschaften nach dem Sturz autokratischer | |
Regime zu bewerten. Der Befund: Im globalen Maßstab sei Mursi, trotz | |
Anmaßung und Inkompetenz, eher Durchschnitt gewesen; auf der Skala zwischen | |
Demokratie und Autokratie habe das Mursi-Ägypten keineswegs am unteren Ende | |
rangiert. Der Putsch, sagen die Forscher, sei legitimiert worden „durch | |
eine grundlegende Fehldeutung und Verzerrung dessen, was vorher geschah“. | |
## Assad als das kleinere Übel | |
Den Terror säkularer Regime zu verharmlosen, das war im Westen vor Beginn | |
der Arabischen Revolten gängige Praxis. Nach dem Sturz von Mubarak schien | |
sich das zu ändern, doch war das, wie man heute sieht, von kurzer Dauer. | |
Der Fall Syrien: Schon gilt Assad, der Schlächter, als kleineres Übel. Und | |
immer noch entzieht es sich jeglicher Vorstellung, dass es düstere | |
taktische Allianzen zwischen einem säkularen Staatsapparat und einem | |
religiös verbrämten Terrorismus geben kann. Obwohl die Entstehung von | |
„al-Qaida im Maghreb“ mit Personal aus dem algerischen Geheimdienst dafür | |
bereits ein Beispiel war. | |
Eine Meldung aus Nigeria: Gegenüber dem Radiosender Voice of America, dem | |
die Verharmlosung von Islamismus nicht nachgesagt werden kann, berichtete | |
ein nigerianischer Soldat von Armeekommandeuren aufseiten der | |
Terroristensekte Boko Haram. Er hatte unter deren Kämpfern bei einem | |
Einsatz seine früheren militärischen Ausbilder erkannt. | |
Wohlgemerkt: Die genuinen Verbrechen von Boko Haram und anderen werden | |
durch solche Informationen nicht weniger schlimm. Aber wie zutreffend ist | |
das Bild, das uns übermittelt wird? Und bergen die fehlenden Teile des | |
Bilds womöglich Gründe, warum die Bekämpfung von Boko Haram so wirkungslos | |
ist? | |
Je nachdem, ob ein Übeltäter als muslimisch-religiös oder säkular | |
etikettiert ist, kennt die Ökonomie der öffentlichen Erregung verschiedene | |
Maßeinheiten. Wenn Erdogan Twitter verbietet, ist der Aufschrei lauter, als | |
wenn Assad Kinder foltert. Das Argument, die Türkei stehe uns näher und | |
wolle in die Europäische Union, kann den Erregungsunterschied nicht | |
überzeugend erklären. Im Fall Iran genießen die Opfer stets | |
Vertrauensvorschuss, weil sie die Opfer eines islamischen Regimes sind, | |
selbst wenn der Hingerichtete ein Drogenhändler war. | |
Der Mangel an Empathie für die Betroffenen ist einer der Gründe, warum | |
säkulare Repression so chronisch unterbewertet wird. Allein das Wort | |
„Muslimbrüder“ ist schon ein Empathie-Blocker. Und solche Regime sind, wie | |
vor dem Arabischen Frühling, kalkulierbare Partner des Westens. Gerade erst | |
weilte US-Außenminister Kerry wohlwollend lange in Algerien, dem | |
bevorzugten Gehilfen für den Antiterrorismus in der Region. | |
## Jede Revolution ist anders | |
Neu ist indes etwas anderes: Die Auffassung, der Islamismus sei heute der | |
Hauptfeind, frisst sich in die westliche wie in die arabische Linke hinein. | |
Das lähmt die Solidarität mit der syrischen Revolution, nährt eine falsche | |
Lesart der ägyptischen Ereignisse, polarisiert in Tunesien. Vielleicht | |
handelt es sich um eine Art fehlgeleiteten Internationalismus. Aber schon | |
allein Ägypten und Tunesien, die beiden postrevolutionären Gesellschaften, | |
trennt mehr, als sie verbindet. Das gilt für den Grad der Religiosität wie | |
für den Charakter der islamistischen Akteure. Das Desaster der Muslimbrüder | |
vor Augen, hat die tunesische Ennahda die Macht abgegeben. Immerhin. | |
In Algerien haben die drei wichtigsten islamistischen Parteien zusammen mit | |
säkularen Oppositionellen die Wahl boykottiert. Weltweit, von Indonesien | |
bis zur Krim, geht der politische Islam je nach Land ganz unterschiedliche | |
Wege. Deshalb haben sich alle modischen Thesen über seinen Aufstieg oder | |
Abstieg irgendwann blamiert. | |
27 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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