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# taz.de -- Debatte Nigeria: Der progressive Emir
> Gestern Disko, heute Dschihad. Wie der frühere Zentralbankchef Lamido
> Sanusi zum Geistlichen in Nordnigeria wurde.
Bild: Lamido Sanusi, der neue Emir von Kano im Juni 2014.
Es war still. Ein Vogelschwarm zog über den Lehmpalast des Emirs von Kano,
Nordnigeria. Seine hellbraunen Mauern sahen von Weitem aus, als trügen sie
Einschusslöcher. Tatsächlich waren es die Gänge großkalibriger Insekten,
die sich in diesem 500 Jahre alten Palast eingenistet hatten.
Oft sind die Dinge nicht so, wie wir sie uns auf ersten Blick erklären. Den
Emir, der seit Kurzem Hausherr des seltsamen Palastes ist, lernte ich vor
acht Jahren in einem Restaurant in Lagos kennen. Damals trug Lamido Sanusi
einen modischen, fein gestreiften dunklen Anzug, dazu eine gepunktete
Fliege. Jetzt zeigt sich der zierliche Intellektuelle der Öffentlichkeit
nur noch mit einem Schleier, der sein Gesicht bis auf die Augen verhüllt.
Die männliche Verschleierung ist in der Haussa-Kultur ein Zeichen von
Vornehmheit, Ehre und Schamhaftigkeit. Die Verwandlung dieses Nigerianers
fällt nicht in das Genre muslimischer Erweckungskarrieren, von denen
westliche Medien so gern erzählen: gestern Disco, heute Dschihad. Es
handelt sich vielmehr um die ungewöhnliche Begegnung von politischem
Oppositionsgeist und traditionell-feudalem Sufi-Islam.
Kano war einst ein mächtiger Stadtstaat, ein Handelszentrum der
Karawanen-Ära. Mit den Händlern kamen gebildete Muslime, sie waren wegen
ihrer Kenntnisse bei Hofe geschätzt. Im 14. Jahrhundert konvertierte auf
dem Gelände des Palastes der erste einheimische König. Bis heute ist der
Emir von Kano im krisengeschüttelten muslimischen Norden Nigerias der
zweithöchste religiöse Führer. Nun also Lamido Sanusi.
## „Ich bin ein feministischer Polygamist“
Der 52-Jährige ist ein progressiver, marxistisch gebildeter Ökonom, der
sich furchtlos mit den korrupten Eliten anlegte. Als reformwütiger
Zentralbankchef wurde er im Februar vom Staatspräsidenten suspendiert, weil
er Unterschlagungen in der staatlichen Ölgesellschaft offenzulegen begann.
Es ging um Milliardenbeträge. Sanusi liebt die Provokation, er ist ein
Paradiesvogel, aristokratisch, wohlhabend und so exzentrisch, wie jemand
vermutlich sein muss, der in London und New York Wirtschaftswissenschaften
und in Khartum islamisches Recht studiert hat. Beim Abendessen vor acht
Jahren breitete er ungefragt sein polygames Leben aus. Drei Haushalte auf
zwei Kontinenten, drei Frauen, zehn Kinder. Aber bitte: alle Gattinnen
Akademikerinnen! Sanusi ist ein großer Förderer von Mädchenbildung, vor
allem im armen Norden, und er nannte sich an diesem Abend kokett einen
„feministischen Polygamisten“.
Der Banker entstammt einer Seitenlinie der Herrscherfamilie von Kano und
errang den Thron nur gegen Widerstand. Seine erste Frau ist gleichfalls aus
dem Palast, eine Tochter des unlängst verstorbenen Alt-Emirs. Der hatte den
Posten seit 1963 inne und zeugte mit vier Frauen und zahlreichen Konkubinen
70 Kinder.
Der Hausherr war verreist an jenem stillen Tag, als der Vogelschwarm über
die Lehmmauern des Palastes zog. Das erleichterte mir einen informellen
Zutritt. Im Inneren verwirrte ein raffiniertes System von Höfen und
Durchgängen; so konnte kein Fremder unbemerkt zum Frauenquartier
vordringen. Weibliche Verwandte des Emirs saßen dort auf Mäuerchen herum,
sie wirkten nicht besonders königlich, doch die Vorbeigehenden verneigten
sich und berührten mit einer raschen, nur angedeuteten Bewegung den Boden.
## „Heute haben wir nur noch Fernsehen und Video, wie langweilig!“
Prinzessin Abba, Sanusis Schwiegermutter, empfing mich in einem hohen Raum,
der früher die Palastbibliothek war. Nun lief hier ein profaner Fernseher.
Ich nahm auf einer Matte zu Füßen der Prinzessin Platz. „Früher“, sagte …
alte Dame wehmütig, „hatten wir zur Unterhaltung Papageien,
Musikinstrumente und Geschichtenerzählerinnen. Heute haben wir nur
Fernsehen und Video. Wie langweilig.“ Sie unterrichtete als Lehrerin im
Palast und hatte den Emir auf vielen Auslandsreisen begleitet. Als ich mich
verabschiedete, sagte sie unvermittelt: „I’m a girl guide!“
Feuermachen, Pfadfinderknoten, auch das brachte sie den Palastmädchen bei.
Nun steht der Feminist Sanusi der 500-köpfigen Palastfamilie vor. Nach dem
Frühgebet zieht er sich gewöhnlich zurück, um ausgiebig im Netz zu surfen
und sich ein Bild über die Weltlage zu machen. Erst danach helfen ihm
Diener für das zeremonielle Tagwerk in die aufwendige Kluft: mehrere Lagen
Tuch, ein hoher Kopfputz, zwei Gesichtsschleier und eine auffallend große
Puschen-Fußbekleidung. Als erste Amtshandlung ließ er sich so mit einem
Pappschild „#Bringbackourgirls“ für Twitter fotografieren.
## Sind die Emire „Prostituierte der Macht“?
Seine Klage gegen den Staatspräsidenten wegen des Rauswurfs als
Zentralbankchef hat Sanusi zurückgezogen; sie hätte wohl nicht zu seiner
neuen Stellung gepasst. Doch seine Anhänger unter Nigerias Oppositionellen
und Intellektuellen erwarten, dass der neue Emir zu religiösen und sozialen
Fragen weiterhin freimütig Stellung bezieht. Das gilt für die
Regierungspolitik wie für die Extremisten von Boko Haram, die sich nur
bekämpfen lassen, wenn zugleich Armut und Ungerechtigkeit im Norden
bekämpft werden.
Es besteht in den Regionen des Nordens seit Jahrzehnten eine rivalisierende
Wechselbeziehung zwischen der Stärke extremistischer Gruppen und dem
Einfluss traditioneller Führer. Letztere werden von Radikalen und Puristen
als „schlechte Muslime“ bezeichnet, gar als Abgefallene – keineswegs nur
wegen ihrer sufistischen Praktiken. Die Emire galten schon während der
britischen Kolonialzeit aufgrund ihrer Kooperationsbereitschaft als
„Prostituierte der Macht“.
Auch außerhalb Nigerias halten es die traditionellen muslimischen Führer zu
oft mit den schlechten politischen Eliten – sei es aus quietistischen
Motiven, aus Naivität oder aus Berechnung. Die Massen, soweit sie noch mit
Liebe und Verehrung zu den verschleierten Männern aufblicken, werden auf
diese Weise davon abgehalten, für ihre Rechte zu kämpfen. Lamido Sanusi hat
das Zeug, mit dieser Regel zu brechen, mit der falschen Allianz von
Tradition und Gier. Man wird Kano im Auge behalten.
21 Jul 2014
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
## TAGS
Nigeria
Bring Back Our Girls
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