# taz.de -- Rezension Tony Judt und Timothy Snyder: Nachdenken über die Verhä… | |
> Kurz vor seinem Tod sprach der britische Historiker Tony Judt mit seinem | |
> Kollegen Timothy Snyder. Ihre politischen Reflexionen gibt es nun als | |
> Buch. | |
Bild: Ein Zeichen des unreformierbaren Kommunismus. | |
Posthum ist von Tony Judt ein letztes Buch erschienen, ein umfangreicher | |
Gesprächsband, der aus New Yorker Krankenbesuchen hervorgegangen ist, die | |
der 1969 geborene Yale Professor Timothy Snyder beim 20 Jahre älteren, 1948 | |
geborenen Judt während des Jahres 2009 unternommen hat. 2010 ist Judt an | |
der schon 2008 diagnostizierten amyotrophen Lateralsklerose verstorben. Ein | |
starker Drang, der Welt noch etwas mitzuteilen, beseelte die unglaubliche | |
Produktivität am Ende seines Lebens. | |
Die schönen kleinen Bücher „Dem Land geht es schlecht“ und „Das Chalet … | |
Erinnerungen“ hat er seinen Kindern gewidmet und er erzählt aus einem | |
Jahrhundert, das der ebenfalls aus Oxbridge hervorgegangene, aber | |
wesentlich ältere Historiker Eric Hobsbawm short century, das kurze | |
zwanzigste Jahrhundert, genannt hat. Der Gesprächsband Judts mit Snyder | |
verspricht schon im Titel „Nachdenken über das 20. Jahrhundert“. Ohne den | |
1917 in Alexandria geborenen und 2012 in London verstorbenen Hobsbawm geht | |
es nicht. | |
Tony Judt hat schon 2003 in der New York Review of Books Eric Hobsbawm als | |
„letzten romantischen Kommunisten“ gewürdigt, nachzulesen in dem ebenfalls | |
bei Hanser erschienenen Lesevergnügen „Das vergessene 20. Jahrhundert“. | |
Diese Sammlung von Rezensionsessays mag Timothy Snyder ermutigt haben, im | |
Vorwort zum Gesprächsband Tony Judt als den „Einzigen“ zu rühmen, der fä… | |
wäre, „eine politische Ideengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts“ zu | |
schreiben. | |
Das klingt schon etwas nach Werbelyrik fürs eigene Werk, das diese | |
Ideengeschichte ersetzen soll, die der todkranke Judt zu schreiben nicht | |
mehr in der Lage war. | |
## Short century und Eric Hobsbawm | |
Doch diese hochgesteckten Erwartungen können die Gespräche zwischen Judt | |
und Snyder nicht erfüllen; sie kreisen eher um das Selbstverständnis von | |
Historikern im und nach dem short century. Deshalb kommen beide immer | |
wieder auf Eric Hobsbawm zurück wie auf einen Leuchtturm, der den Weg aus | |
der traditionellen Nationalgeschichte in die Weltgeschichte weist. Es ist | |
nicht nur die einzigartige Lebensgeschichte Hobsbawms, die ihn für diese | |
Rolle prädestinierte, sondern auch eine fulminante Autobiografie: | |
„Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert“, die Hobsbawm noch im | |
Alter von 85 Jahren publizierte. | |
Judt bescheinigte dem „Meister der englischen Prosa“, dieses Buch sei „das | |
Beste, was Hobsbawm je geschrieben hat“. Judt meinte damit nicht die | |
interessanten Begegnungen mit zeitgeschichtlichen Persönlichkeiten, das | |
Leben unter den „Aposteln“ in Cambridge oder die Erkundungen in den | |
abgelegensten Gegenden von Wales, sondern die erfahrungsgesättigte | |
Weltsicht eines kosmopolitischen Einzelgängers. Wo gibt es denn so etwas? | |
In England. Wo und wie ist Hobsbawm zum Kommunismus gekommen? Im | |
Deutschland der Weimarer Republik. | |
Aber nur in England konnte ein Kommunist in den elitärsten Zirkel von | |
Cambridge aufsteigen, mit Wittgenstein, Moore, Whitehead, Russell, Keynes, | |
E. M. Forster und den später als Sowjetspionen enttarnten Burges und Blunt | |
an einem Tisch sitzen, jahrzehntelang unbehelligt eine ordentliche | |
Lehrtätigkeit am Birkbeck College ausüben. Mit ungeheurem Fleiß und | |
grandioser Belesenheit entstand ein gelehrtes Lebenswerk, das in der Welt | |
von heute seinesgleichen sucht und über sie hinausweist. | |
## Paradoxer Kommunismus | |
Wie war das möglich? Kommunismus gilt spätestens seit dem Ende des short | |
century als Inbegriff eines dicken Bretts vorm Kopf, das es verunmöglicht, | |
Realität wahrzunehmen. Aber Hobsbawm pflegte einen paradoxen Kommunismus, | |
der schwer auf den Begriff zu bringen ist. Der Hobsbawm der Weimarer Zeit | |
wollte nicht die Verhältnisse zum Tanzen bringen, die Welt befand sich in | |
einem gigantischen Veränderungsprozess, die erwartete Revolution trat nicht | |
ein, und wo die Revolution in den vierziger Jahren auf den Spitzen der | |
sowjetischen Bajonette kam, sah sie anders aus, als Marx sie erwartet | |
hatte. | |
Hobsbawm wurde ein Historiker mit kommunistischer Parteimitgliedschaft in | |
einem Land, in dem die Partei nach menschlichem Ermessen nie die politische | |
Macht erobern würde. So lernte ihn Judt 1968 kennen, als er selbst der | |
Sekretär der Historischen Gesellschaft des King’s College geworden war – | |
ein Job, den Hobsbawm einst bekleidet hatte. Den studentischen Aktivismus | |
von damals betrachtete der traditionelle Kommunist und etablierte | |
Akademiker wie ein europäischer Tourist den Karneval in Rio. Judt übernahm | |
diese Sicht. Auch verspürte er keine Lust, sich einer der Sambaschulen | |
anzuschließen. | |
Hobsbawm, ein macht- und theorieferner Kommunist, hatte für sich Marx’ | |
elfte Feuerbachthese schon umgekehrt: Die Welt hat sich radikal verändert; | |
es kommt darauf an, sie zu verstehen. In diesem Selbstverständnis | |
begegneten sich die Kingsmen Hobsbawm und Judt, zu dem sich auch der | |
Oxfordabsolvent Snyder gesellte. Der paradoxe Hobsbawm galt den Jüngeren | |
als exemplarischer marxistischer Historiker, der sich wie ein britischer | |
Exzentriker weigerte, die Partei zu verlassen. | |
## Postwar | |
Marx selbst war kein Historiker gewesen, für die englischen kommunistischen | |
Historiker, neben Hobsbawm E. P. Thompson und Christopher Hill, war der Weg | |
frei zum Studium der Genese und Geschichte des (englischen) Kapitalismus. | |
Aus diesem Nukleus entwickelte sich bei Hobsbawm das Studium des real | |
anglozentrischen langen 19. Jahrhunderts, das er mit den Augen des short | |
century ansah – der Verfall des Empire und der Aufstieg des sowjetischen | |
Imperiums bestimmten die Okulare. | |
Die britische Geschichte war bestens studiert, als Judt zum Historiker | |
wurde, Hobsbawm wurde nach den Worten Judts ein „transnationaler englischer | |
Intellektueller“, während er selbst sich einen Weg außerhalb der | |
ausgetretenen Pfade suchte. Judt schaffte es auch institutionell auf dem | |
Höhepunkt seiner glänzenden Karriere, gleichzeitig Direktor eines | |
historischen Instituts in New York und in Paris zu werden. Seine Bücher | |
gewinnen ihren Reiz durch die Perspektivwechsel. | |
Mit seinem „Postwar“, deutsch „Geschichte Europas von 1945 bis zur | |
Gegenwart“ (2006) hat Judt ein vorbildliches Werk vorgelegt, das | |
Zeitgeschichte nicht mehr als Nationalgeschichte erzählt. Der Kalte Krieg | |
hat diese veränderten Blickwinkel möglich und nötig gemacht – Judts | |
Reflexionen auf die Vorgeschichte von Westen und Osten, auf den | |
reformierten Kapitalismus und den unreformierbaren Kommunismus im short | |
century, rechtfertigen den Titel „Nachdenken über das 20. Jahrhundert“. | |
Marx erscheint in diesen Gesprächen gefiltert durch die Erfahrung des | |
Kommunismus; über Marx und den Marxismus erfährt man mehr, wenn man | |
Hobsbawms nachgelassenes Buch „Wie man die Welt verändert“ liest. Sein | |
Titel führt in die Irre; man liest etwas darüber, wie man Marx | |
interpretieren kann und wie er interpretiert worden ist. Gegenüber der | |
Marx’schen Theorie haben die englischen Historiker nach dem treffenden | |
Urteil Judts ein Desinteresse bewiesen; das kann nicht durch die | |
Bewunderung für Gramsci wettgemacht werden, der in Tony Judts Lehrjahren | |
die formidable New Left Review um Perry Anderson beherrschte. | |
Alle drei Historiker interpretieren die Gegenwart kritisch – das macht den | |
Erfolg der Bücher von Hobsbawm und Judt aus. Seine Kritik kommt nicht aus | |
einem unverwirklichten kommunistischen Traum, sondern aus einem Nachdenken | |
über die Verhältnisse. Die Welt hat sich in den letzten 20 Jahren in | |
atemberaubendem Tempo verändert; zu einem Status quo ante zurückzukehren, | |
ist weder möglich noch wünschenswert. Aber wir sollten wissen, was wir | |
nicht verlieren möchten – bei dieser Bewusstseinsbildung können uns | |
aufgeklärte Historiker wirklich helfen. Auch das ist schon mehr als eine | |
Interpretation; es wäre eine Veränderung. | |
## ■ Tony Judt, Timothy Snyder: „Nachdenken über das 20. Jahrhundert“. A… | |
dem Englischen von Matthias Fienbork. Hanser Verlag, München 2013, 412 S., | |
24,90 Euro | |
1 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Detlev Claussen | |
## TAGS | |
Kommunismus | |
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