| # taz.de -- Politik und Essen: Fehlt die kulinarische Intelligenz? | |
| > Der Gastrokritiker Jürgen Dollase hat da ein Veränderungsangebot: Wir | |
| > sollten uns anders mit dem befassen, was auf unseren Tellern liegt. | |
| Bild: Dem Gastrokritiker Jürgen Dollase wurde schon schlecht, wenn er an sie d… | |
| Könnten Sie sich vorstellen, jeden Sonntagabend den selben Film im | |
| Fernsehen zu sehen? Nicht die selbe Serie, also nicht immer Tatort, sondern | |
| immer den exakt selben Film, ein und die selbe Tatort-Folge. Jeden Sonntag. | |
| Wäre vielleicht ein bisschen langweilig, oder? | |
| Könnten Sie sich vorstellen jeden Sonntag, wenn Sie wieder in Ihrem | |
| Lieblingsrestaurant sind, das selbe Gericht zu bestellen? Immer Wiener | |
| Schnitzel mit Kartoffesalat? Jeden Sonntag? | |
| Wahrscheinlich schon eher, oder? | |
| Womit der Missstand, den Jürgen Dollase wahrnimmt, zunächst einmal | |
| beschrieben wäre. | |
| ## „Bildungsferne Redundanzesser“ | |
| Jürgen Dollase ist Deutschlands einflussreichster Gastrokritiker und für | |
| diese Menschen, die in ihrem Restaurant immer das selbe bestellen, sei es | |
| im Promi-Lokal Borchardt oder im Wienerwald, hat er einen Begriff gefunden: | |
| „bildungsferne Redundanzesser“. | |
| „Bei Adornos Einführung in die Musiksoziologie gibt es Hörertypen und einer | |
| ist der Redundanzhörer“, sagt Dollase in der aktuellen taz.am wochenende im | |
| Gespräch mit Peter Unfried. „Das kann man eins zu eins auf Esser | |
| übertragen. Das ist der Esser, der immer das Gleiche essen will. Man kann | |
| Adorno weiterdenken: Diese Art zu essen ist zutiefst kleinbürgerlich und | |
| letztlich für Leute, die gern in autoritären Systemen leben, wo sie wissen, | |
| ich mache das Richtige.“ | |
| Das dürfte in Deutschland derzeit noch eine satte Mehrheit sein, weshalb | |
| Jürgen Dollase die kulinarische Emanzipation fordert. Es geht ihm darum, | |
| dass wir die Folgen unserer einseitigen kulinarischen Sozialisation | |
| überwinden, unsere Sinne öffnen, intensiver wahrnehmen und ein neues | |
| Qualitätsbewusstsein entwickeln. | |
| „Bei Umweltverschmutzung reagiert man in Deutschland hysterisch“, stellt | |
| Dollase fest. „Aber die Verkopplung von Essen und Gesellschaft haben wir | |
| noch nicht verstanden. Wenn man aggressiv wäre, müsste man sagen: Schlecht | |
| essen ist wie sich nicht waschen.“ | |
| Dollase hat damit seine eigenen Erfahrungen gemacht. Er führte als Musiker | |
| der Band Wallenstein ein Leben zwischen Rock'n Roll und Roth Händle, bevor | |
| er zum Gastrokritiker wurde. Er musste die kulinarische Intelligenz, die er | |
| jetzt fordert, erst einmal für sich selbst entwickeln. | |
| ## Erst Ekel akzeptieren, dann Schweinefett genießen | |
| „Der Antrieb war meine Frau“, erzählt er in der taz.am wochenende. „Es w… | |
| mir irgendwann peinlich, dass wir in Paris rumliefen, sie wollte gern ein | |
| Restaurant ausprobieren und ich konnte nicht reingehen, weil mir schon | |
| schlecht wurde, wenn ich nur an eine Garnele dachte. Garnelen waren für | |
| mich wie Regenwürmer. Als ich das erste Mal in der Bretagne vor einem | |
| Teller mit Austern saß, würgte es mich.“ Er habe dann, sagt er, die | |
| Freiheit entwickelt, erst mal alles in den Mund zu stecken. | |
| Sie bedeutet manchmal auch, den Ekel zu akzeptieren, um dann zu erkennen, | |
| dass das schwabbelige Schweinefett einen ganz besonderen Geschmack | |
| entfaltet. Oder die Garnelen. Was nicht ganz einfach ist, weil wir | |
| nahrungsindustriell auf Zucker und Salz konditioniert sind, auf möglichst | |
| viel von beidem. Sonst schmeckt das ja nicht. Zumindest eben, wenn man | |
| nicht weiter darüber nachdenkt. | |
| Dollases Bücher heißen „Geschmacksschule“ oder „Kulinarische Intelligen… | |
| Mit der „Neuen deutschen Küche“ will er eine kreative Küche fördern. „… | |
| Problem ist“, sagt er „dass die kreative Küche im falschen Gehäuse groß | |
| geworden ist, nämlich im System der gehobenen Küche. Aber Luxuspublikum und | |
| kreative Küche passen oft nicht zusammen. Die Frage ist: Welches ist das | |
| Publikum für die kreative Küche? Das ist noch unklar.“ | |
| Klar ist für ihn: Wenn der Einzelne sich auf die Freiheit einlässt, Essen | |
| anders wahrzunehmen, eine bewusstere Esskultur zu entwickeln, dann wirkt | |
| sich das auch auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik aus. | |
| Ein ganz praktisches Beispiel ist der Hummer: „Der männliche Hummer | |
| schmeckt etwas speckiger, der weibliche etwas nussiger. Solche | |
| Unterscheidungen sind bei den schlappen Halbleichen nicht möglich, die in | |
| Holzwollekisten in Deutschland ankommen. Man sollte die guten Sachen dort | |
| essen, wo sie herkommen, und sie nicht in die Welt verfrachten. Dazu | |
| braucht man kein ökologisches Bewusstsein, dafür reicht das kulinarische | |
| völlig aus.“ | |
| Hat Dollase recht? Fehlt uns die kulinarische Intelligenz? Und würden wir | |
| zu einer besseren Gesellschaft, wenn wir uns darauf einließen, sie zu | |
| entwickeln? Oder sind Sie mit ihrem Standard-Schnitzel, mit Ihrem | |
| Lieblings-Tofu-Burger eigentlich ganz zufrieden? | |
| Diskutieren Sie mit! Das Titelgespräch mit Jürgen Dollase lesen Sie in der | |
| taz.am wochenende vom 23./24. November. | |
| 22 Nov 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Johannes Gernert | |
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