# taz.de -- Nachruf: Der listenreiche Hannes | |
> Der Pädagogik-Professor Johannes Beck gehörte zu den prägenden Figuren | |
> der Bremer Reform-Uni. Seinen Studierenden mutete er paradoxe Situationen | |
> zu. | |
Bild: Meist waren die Augen hinter Lachfalten versteckt: Johannes Beck hat auch… | |
BREMEN taz | Uni Bremen, 1977, erstes Semester, erster Studientag: Die | |
Veranstaltung heißt „Integrierte Eingangsphase Lehrerbildung“ – das | |
Wortmonstrum ist der Name einer Einführung, die das Bremer Reformstudium | |
kennzeichnet. Der Pädagogikprofessor fragt seine Erstsemester, ob sie | |
konventionell studieren wollen. Oder lieber selbstorganisiert, ohne | |
Anleitung. | |
Allgemeine Verwirrung, zunehmende Beunruhigung. Wie? Ohne Professor | |
studieren?! Ich melde mich mit sechs weiteren Studenten. Der Professor | |
verabschiedet sich von uns. Und gibt den „Selbstorganisierten“ den Rat, die | |
ersten Studienerfahrungen draußen in der Welt zu machen. Bloß nicht in der | |
Uni! | |
Uni verkehrt. Studieren ohne Professor, außerhalb der Alma Mater – und dann | |
wurden wir, die wir ihn doch gar nicht nötig haben wollten, auch noch ganz | |
offensichtlich seine Lieblinge! Der Lehrer, der seinen Studenten eine so | |
paradoxe Situation zumutete, hieß Johannes Beck. Genauer: „der Hannes“, | |
Duzen war Pflicht damals. | |
Groß war er, hager, hatte dunkle Locken und einen Schnäuzer wie Günter | |
Grass. Die Augen waren meist hinter Lachfalten versteckt. Seine | |
Studentinnen konnten nicht anders, sie mussten sich in ihn verlieben. Er | |
trug Lederjacke und war links wie alle, die von der Bremer Uni angelockt | |
worden waren, von der „roten Kaderschmiede“. Dabei war er das Gegenteil von | |
einem Kaderschmied: Er roch nach Gedankenfreiheit und pädagogischem | |
Abenteuer. | |
Johannes Beck wurde 1938 in Breslau/Wroclaw geboren. Seine Familie floh in | |
den Hotzenwald, eine Landschaft im Südschwarzwald, bekannt für ihre | |
eigenwilligen, jeder Obrigkeit gegenüber skeptischen Bewohner. Er war | |
Waldorfschüler, wurde Schreiner, ging nach der Gesellenprüfung auf | |
Wanderschaft. | |
Zu Fuß, als Tramper, mit einem alten Motorrad, auf dem Rücken eines Esels. | |
Danach begab er sich auf den zweiten Bildungsweg und wurde | |
Volksschullehrer. Später studierte er in Darmstadt, Würzburg und Frankfurt | |
Geographie, Pädagogik, Soziologie und Philosophie. Eine „Zwergschule“ | |
(Einklassenschule) im Spessart wurde seine, wie er einmal schrieb, | |
„reformpädagogische Lehrwerkstatt“. | |
Hier erlebte er das Eingebundensein in die Dorfgemeinschaft, das | |
wechselseitige Lehr und Lernverhältnis zwischen jüngeren und älteren, | |
flotteren und langsameren Schülern. Er machte die Erfahrungen, die seine | |
künftigen pädagogischen Ideen prägten (und die er später mit seinen Bremer | |
Lehramtsstudenten teilte). | |
Mit Gründung der Uni Bremen 1971 begann auch Becks Hochschullaufbahn. | |
Engagiert arbeitete er an der Reform des Lehramtsstudiums mit, er war einer | |
der Entwickler des Bremer Projektstudiums. Doch schon zwei Jahre später | |
kamen ihm Zweifel. Die latente Skepsis des ’68ers gegenüber allen | |
Institutionen betraf schnell auch die Reform-Uni. | |
Zu deutlich wurde auch hier der „heimliche Lehrplan“, der für die Schule | |
die Fächer Stillsitzen, Pünktlichkeit und Anpassung vorsieht. Die Bremer | |
Uni war im Zweifel ebenso eine anpassende, systemstabilisierende | |
„Sortieranlage“ und „Lernfabrik“. | |
Die Bekanntschaft und spätere Freundschaft mit dem Philosophen und | |
Gesellschaftskritiker Ivan Illich (den Beck gemeinsam mit Freunden an die | |
Bremer Uni holte) verschärfte seinen Widerspruch zur „Expertokratie“, der | |
Herrschaft von Spezialisten, die das Volk entmündigen und abhängig machen, | |
um so ihr Recht auf Existenz (und Finanzierung!) zu beweisen. Aus Bürgern | |
werden, stellte Beck fest, „Dauerlehrlinge ohne eigenwillige Identität“. | |
Johannes Beck wurde zum Kritiker einer „total und totalitär gewordenen | |
Pädagogisierung sämtlicher Lebensverhältnisse“, zu der sein eigenes Fach | |
beitrug. Als zu Beginn der 1980er-Jahre die pädagogische Forschung | |
plötzlich Millionen „funktioneller Analphabeten“ entdeckte, die nur auf die | |
Betreuung durch menschenfreundliche Pädagogen zu warten schienen, hatte | |
Beck einen Vorschlag: Man sollte von den Analphabeten vorher „erst einmal | |
Nachhilfe in den Fächern Aufmerksamkeit, Mündlichkeit, Gedächtnis und | |
Mit-Alphabeten-Leben erbitten“. | |
Diese Art von radikalem Um-die-Ecke-Reden, dieses listenreiche | |
Gegen-den-Strich-Denken als Geburtshilfe für neue Ideen wurden zu Becks | |
Markenzeichen. Er liebte Heinrich Heine und Karl Krauss, freute sich am | |
Hintersinn der Worte – und setzte ihn für seine Zwecke ein. | |
Die Konsequenzen, die Johannes Beck aus seiner Kritik an der herrschenden | |
Pädagogik zog, nannte er „soziale Erfindungen“. Er initiierte oder förder… | |
Projekte außerhalb der Uni, da wo Bildung nicht gleich „Bildungswahn“ (so | |
der Titel eines seiner wichtigsten Bücher) bedeutet. Er unterstützte die | |
„Reisende Hochschule“, die Bildung im Kontakt mit anderen Völkern (und | |
liegenbleibenden Reisebussen) sucht. Er war an der Gründung der Päd-Koop | |
(heute: Freinet-Kooperative) beteiligt. | |
Als Gründervater des „Ausbildungswerks Bremen“, eines Vereins, der | |
arbeitslosen Jugendlichen zu einem Beruf verhelfen will (heute: AUCOOP), | |
brachte er laut Protokoll der ersten Vereinssitzung diese „formale | |
Berufsqualifikation“ mit: „Facharbeiterbrief, Bau und Möbeltischler, | |
Sanitäter, Kfz-Führerschein, 1. und 2. Lehrerprüfung und ’Uniarbeit‘“.… | |
Frage, wie er sich einbringen könnte, beantwortet er so: „Div. | |
handwerkliche Arbeiten, hab mal (mit anderen) ’nen Lehrbetrieb aufgebaut; | |
mit Bürokraten verhandeln (schrecklich); Gitarre spielen; kochen.“ | |
Unfassbar ist, wo und in welchen Zusammenhängen er und sein Name überall | |
auftauchten: In der linken Kulturzeitschrift Ästhetik und Kommunikation war | |
er Redaktionsmitglied. Er saß im Beirat des ID, des Informationsdienstes | |
zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten, der ein Vorläufer der taz war. | |
Beck war Mitglied der GEW. Zusammen mit Heiner Boehncke gab er von 1976 bis | |
1982 die Jahrbücher für Lehrer heraus. Er war Autor beziehungsweise | |
Herausgeber von weit über hundert Büchern. | |
2003 wurde Johannes Beck emeritiert. Diese Trennung machte nicht alle | |
Beteiligten traurig. Die Umstellung auf Bachelor und Masterstudiengänge, | |
die Beschleunigung und Effektivierung der Bildung lehnte Beck ab. Und viele | |
Kollegen waren froh, den Querkopf los zu sein. Was ihn nicht weiter | |
beunruhigte. Typische Beck’sche Volte: „Wäre ja fürchterlich, wenn mich | |
hier keiner loswerden wollte. Dann hätte ich ja was falsch gemacht.“ | |
Mit seiner Veranstaltungsreihe „Kritische Suchbewegungen“, die er 2007 | |
gemeinsam mit Gerhard Vinnai und Gert Sautermeister ins Leben rief, war | |
Beck bis zuletzt intellektuell unterwegs, wie immer ebenso bescheiden wie | |
hartnäckig. „Ermöglichen Computer und Internet eine demokratische | |
Wirtschaftsplanung?“ – so fragte er noch am 27. 11. in der Villa Ichon. | |
Fünf Tage später unternahm er in der Nähe von Nürnberg mit ehemaligen | |
Schulkameraden seine letzte Wanderung. Johannes Beck starb am 2. Dezember | |
2013 im Alter von 75 Jahren, wo er zu Hause war: unterwegs. | |
9 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Burkhard Straßmann | |
## TAGS | |
Reformpädagogik | |
Nachruf | |
Universität Bremen | |
Pädagogik | |
Soziologie | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Buch „Entfremdung und Beschleunigung“: Rasen im Stillstand | |
Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa fragt in seinem Essay, weshalb es trotz | |
Liberalisierung nicht gelingt, ein gutes und erfahrungssattes Leben zu | |
führen. |