| # taz.de -- Alexander Kluges Buch „30. April 1945“: Vom Nachleben der Gefü… | |
| > Ein Buch als Summe von Kluges Werk: ein großer Versuch, den eigenen | |
| > Fantasien auf die Spur zu kommen – und dem Unheimlichen an den Deutschen. | |
| Bild: Den unsichtbaren Gefühlen auf der Spur: Alexander Kluge | |
| Seit seinem Erstling „Lebensläufe“ (1962) kursiert über Alexander Kluge u… | |
| sein Schreiben ein hartnäckiges Missverständnis, das brav von Generation zu | |
| Generation weitergegeben wird. Dieser Autor, so lässt es sich resümieren, | |
| verfahre kalt, sezierend, mache sich über seine Figuren lustig und habe | |
| keinerlei Empathie für sie. | |
| Das ist um so erstaunlicher bei einem Autor, der im Jahr 2000 sein | |
| bisheriges Werk in zwei Bänden unter dem Titel „Chronik der Gefühle“ | |
| zusammengefasst und diese Ausgabe mit den Sätzen eingeleitet hat: „Die | |
| Gefühle sind die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe. Von ihnen | |
| kann man sagen, was man von den Kelten (mehrheitlich unsere Vorfahren) | |
| gesagt hat: Sie sind überall, man sieht sie nur nicht.“ | |
| Diesen unsichtbaren Gefühlen ist Kluges Werk immer auf der Spur. Ohne | |
| Gefühle gibt es für ihn überhaupt keinen Anstoß, zu denken. Der | |
| irreführende Eindruck der Kälte entspringt vermutlich primär der Form | |
| seines Erzählens, deren Lakonie gewiss nicht zu übersehen ist. Ihr Vorbild | |
| ist der Kleist der „Berliner Abendblätter“. Diese Arbeit sei nie | |
| fortgeführt worden, bedürfe der Fortführung aber dringend, hat Kluge 1985 | |
| in seiner Rede zum Kleist-Preis betont. Man darf seine unermüdliche | |
| Geschichtenproduktion getrost als diese Fortsetzung betrachten. | |
| Für die Leser und auch für die Kritik ist es allerdings oft nicht leicht, | |
| den Zusammenhang herzustellen, den diese Geschichten bilden. Diese | |
| Ratlosigkeit spiegelt aber nur die übliche Welterfahrung wider, die wir | |
| machen, wenn wir die Nachrichten eines einzigen Tages aufnehmen, von der | |
| großen weltpolitischen Bühne bis zu den vermischten Nachrichten aus der | |
| Provinz. Die Totalität ist da, hat uns Kluge immer wieder gezeigt, aber | |
| literarisch ist ihr das Fragment, der Versuch, die kurze Meldung, die | |
| unerhörte Begebenheit angemessener als der epische Gestus. | |
| ## Extrem leserfreundlich | |
| Das ist natürlich auch bei seinem neuem Buch der Fall. Dessen | |
| Gesamtstruktur aber enthüllt sich diesmal dem Leser sehr schnell. Kluge ist | |
| hier gleichsam extrem leserfreundlich. Die Ordnung des Erzählten lässt sich | |
| etwa so darstellen: | |
| Es beginnt mit den mannigfachen Rückzugsbewegungen aus dem Osten, setzt | |
| sich fort mit den zeitgleichen Ereignissen auf der neutralen europäischen | |
| Insel Schweiz, fokussiert sich dann auf die letzten Tage in der | |
| Reichshauptstadt, wandert weiter ins schon von den Amerikanern besetzte | |
| Halberstadt, Kluges Geburtsstadt, verlässt dann den europäischen Kontinent | |
| nach Asien und in die USA, wandert zurück nach Deutschland, wo die | |
| Philosophische Fakultät der Universität Freiburg unter Führung von Martin | |
| Heidegger auf Burg Wildenstein im Oberen Donautal den deutschen Geist zu | |
| retten versucht, und schildert dann im letzten Teil, wie schwierig es sein | |
| kann, zur rechten Zeit am rechten Ort zu kapitulieren. | |
| Zwischen den einzelnen Kapiteln gibt es einen fortlaufenden Gastbeitrag von | |
| Reinhard Jirgl, mit dem Kluge schon bei seinem 2011 erschienenen Buch „Das | |
| Bohren harter Bretter“ zusammengearbeitet hat. Kluges Notizen aus Elmau aus | |
| dem August 2013 beschließen „Anstelle eines Nachworts“ den Band. | |
| Was sind das nun für Geschichten und welche Funktion haben Sie? Ich würde | |
| vorschlagen, sie einen Novellenkranz zu nennen, auch wenn manche dieser | |
| Novellen äußerst knapp sind. Im ersten Kapitel wird die allgemeine | |
| Fluchtbewegung von Ost nach West dargestellt. Die beginnende Westbindung | |
| zeigt sich in diesen Tagen nicht zuerst in den Köpfen, sondern in der | |
| physischen Bewegung, die darauf zielt, sich eher den Amerikanern oder | |
| Briten zu ergeben als den Russen. Die Gefühle sind träge und konservativ, | |
| sie verweilen noch bei den Schlagern von 1939. Aber die Körper suchen nach | |
| Rettung. | |
| ## Urvertrauen als Schlüssel | |
| Kluges Menschen verfügen in der Mehrzahl über eine enorme Energie, auch und | |
| gerade nach Niederlagen. Sie stellen sich schnell auf neue Situationen ein | |
| und starten neue Unternehmungen und Experimente. Urvertrauen ist eines der | |
| Schlüsselwörter im Werk dieses Autors. Handlungsgehemmte Melancholiker | |
| gehören nur selten zu seinem Personal. | |
| Im neuen Buch gibt diese Energie, diese Unternehmungslust zudem eine | |
| spezifisch deutsche Erfahrung wieder, hinter der zugleich eine ungeheure | |
| Verdrängungsleistung steht. Das Bild der Trümmerfrauen, die den Schutt des | |
| verlorenen Krieges beiseiteräumen, gehört ebenso zu den Ikonen der | |
| deutschen Nachkriegsgeschichte wie der Begriff Wiederaufbau und bald darauf | |
| das Wirtschaftswunder. Es ging also sofort weiter. Schließlich ist die | |
| Stunde Null kein Begriff, mit dem ein Historiker ernsthaft arbeiten würde. | |
| Das weiß auch Alexander Kluge. | |
| Zur gängigen Rezeption dieses Autors gehört auch, dass man den Humor bei | |
| ihm meist nur in der Form der Ironie erkennt, die ja immer etwas | |
| Distanzierendes, etwas Überlegenes hat. Sieht man aber genau hin, hat Kluge | |
| zu seinen Figuren kaum Distanz, und er macht sich nicht über sie lustig. | |
| Wenn es dennoch bei ihm immer wieder auch hochkomische Situationen gibt, | |
| liegt das meist auf der Ebene der Groteske. Die Groteske ergibt sich aber | |
| nicht daraus, wie Kluge erzählt, sondern sie rührt aus den Situationen | |
| selbst, in die die Menschen unfreiwillig geraten oder sich freiwillig | |
| begeben. | |
| ## Groteske Fantasien? | |
| So ist etwa die Grundsituation des gesamten Kapitels 11 grotesk. Da zieht | |
| Martin Heidegger Ende 1944 mit der Philosophischen Fakultät der Universität | |
| Freiburg auf die Burg Wildenstein im Oberen Donautal, nahe Sigmaringen, dem | |
| Exilsitz der französischen Vichy-Regierung. | |
| Kluge baut diese Szenerie eingangs des Kapitels sehr stimmungsvoll auf: | |
| „Graugänse strichen über das Land. Darüber in Gegenrichtung Jagdbomber auf | |
| ihrem morgendlichen Kontrollflug, unhörbar weit oben. Das Tal lag still | |
| zwischen Berg und Gegenberg. Der Strom, der das Gelände teilte, war unter | |
| der weißlichen Decke des Frühnebels nicht zu erkennen. Hier wohnten einmal | |
| die Götter, sagt Hölderlin. […] Zehn Lehrende und dreißig Lernende | |
| beherbergte die Burg Wildenstein. Dazu kamen Zugesellte, Geflüchtete, | |
| Eingeladene, die sich dem Kreis zugehörig fühlten. Martin Heidegger, | |
| welcher dem Lehrkörper dienstlich seit seiner Kommandierung zum Volkssturm | |
| nicht mehr angehörte […], hatte sich, von allen dankbar empfangen, als | |
| Lehrer eingestellt.“ | |
| Das ist so eine typische Alexander-Kluge-Fantasie, denkt man sich als | |
| geübter Leser eines Autors, der Heidegger in einer früheren Geschichte auch | |
| schon mal zu Kriegszeiten auf die Krim geschickt hat, und man amüsiert | |
| sich. Nur dass es überhaupt keine Fantasie ist. Tatsächlich hat Martin | |
| Heidegger zusammen mit anderen Professoren versucht, auf dieser Burg eine | |
| Oase des Geistes aufzubauen und den Lehrbetrieb aufrechtzuerhalten, während | |
| zur gleichen Zeit schon Panzerwagen des befreiten Frankreich in Richtung | |
| Sigmaringen unterwegs sind. | |
| ## Grotestke der Realität! | |
| Die Groteske entstammt – hier wie anderswo – also nicht Kluges Fantasie, | |
| sondern liegt in der historischen Situation selbst begründet. Kluges | |
| Fantasie dient dann nur dazu, diese Situation zu erzählen, zu | |
| verbildlichen, und das gelingt ihm immer wieder hinreißend, wie in der | |
| Geschichte mit dem schönen Titel „Unheimlichkeit der Requisiten“. Sie | |
| erzählt von einem Kostümverwalter an der Volksbühne, dem auch nach Jahren | |
| noch die Kleider und Requisiten, die für das „Dritte Reich“ stehen, | |
| unheimlich sind. Er fürchtet, dass in ihnen noch etwas von ihrem Ursprung | |
| weiterleben könnte. | |
| Am Schluss heißt es: „Nachts gehe ich oft durch mein Lager und sehe nach, | |
| dass sich diese Kleider und Gegenstände nicht unversehens in Bewegung | |
| setzen. So viel Vorsicht wenigstens scheint mir angebracht, wenn sie | |
| unbeschäftigt sind und bei sich selbst.“ | |
| Diese Geschichte zeigt hervorragend, wie Kluges Erzählen funktioniert. Wenn | |
| sie einerseits eine ganze individuelle Erfahrung und Empfindung wiedergibt, | |
| steht sie doch zugleich für etwas Übergreifendes. In seinen Elmauer Notizen | |
| konstatiert Kluge, dass die Selbsttötung Hitlers eigentlich schon ganz | |
| unwichtig geworden ist, weil seine Existenz im Bunker bereits vor dem Tod | |
| etwas Unwirkliches hatte. Dieses Unwirkliche spukt andererseits wie die | |
| unheimlichen Requisiten als Fantasie bis heute weiter, so dass der Führer | |
| noch immer nicht wirklich tot und begraben ist. | |
| Nach eigenem Bekunden hat Kluge an diesem Buch gut zwei Jahre gearbeitet, | |
| was für seine Verhältnisse eine lange Zeit ist. Der Ausdruck Opus magnum | |
| ist auf ein Werk Alexander Kluges irgendwie nicht recht anwendbar, weil er | |
| nach einem abgerundeten Lebenswerk klingt. Dennoch lässt sich das Buch „30. | |
| April 1945“ durchaus als eine Summe verstehen, als ein sehr umfassender | |
| Versuch, den Gefühlen, Wünschen, Fantasien, die man nicht sieht und die | |
| doch die Menschen bewegen, auf die Spur zu kommen – auch den eigenen. | |
| 27 Jul 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Jochen Schimmang | |
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