| # taz.de -- Alexander Kluge über Kino und Urbanität: „Eine Paradies-Idee“ | |
| > „In den Menschen entsteht die Stadt“, sagt der Filmemacher Alexander | |
| > Kluge. Mit den realen Lebensbedingungen sei diese jedoch nicht identisch. | |
| Bild: Laut Alexander Kluge gibt es ein „Begehren nach Stadt“: Shanghai. | |
| Alexander Kluge ist unermüdlich. Im Berliner Film- und Fernsehmuseum | |
| präsentiert er seit gestern neue Arbeiten fürs Fernsehen und eine | |
| Installation, im Haus der Kulturen der Welt empfängt er zusammen mit | |
| Richard Sennett Architekten, Wissenschaftlerinnen und Kulturschaffende wie | |
| Saskia Sassen oder David Chipperfield, um mit ihnen über „Stadt – Religion | |
| – Kapitalismus“ zu debattieren. Mehrere neue Filme ergänzen das Programm, | |
| das bis Samstag dauert. | |
| taz: Herr Kluge, neben Ihrem work in progress „70.000 Jahre wie ein Tag“ | |
| stellt das Film- und Fernsehmuseum Objekte aus Filmen aus, exotische | |
| Requisiten, so ein Giraffenkostüm und eine mechanische Schildkröte. Was | |
| löst die Verknüpfung von Kinogeschichte mit Ihren enzyklopädischen | |
| Fernsehprojekten in Ihnen aus? | |
| Alexander Kluge: Das ist ein überraschendes work in progress, das mich | |
| sofort anregt, 10-Minuten-Filme hinzuzufügen. Die Filmgeschichte geht nicht | |
| nur im Kino weiter. Das Kino hat mit Sicherheit eine besondere Beziehung zu | |
| unserem Kopf und unseren Gemütsbewegungen. Kein anderes Medium, kein | |
| Computer und die Realität leider auch nicht besitzen diesen Wechsel | |
| zwischen Hell und Dunkel in jedem 48stel einer Sekunde. Diese winzige | |
| Pause, die wir bewusst nicht wahrnehmen beim Filmgucken, bringt | |
| Unbewusstes, Vorbewusstes im Menschen hervor. Das ist es, was ich in einem | |
| Film den „Zauber der verdunkelten Seele“ genannt habe. | |
| Dieses Kino existiert so gut wie nicht mehr. | |
| Was hier im Museum gemacht wird, ist der Archäologie verwandt. Die | |
| Programmgalerie sieht zwar aus wie ein modernes Raumschiff mit Musik und | |
| Bewegtbild, ist aber gleichzeitig eher Kino, weil sie an das anknüpft, was | |
| die Menschen um 1910 anzog, wenn sie von der Arbeit nach Hause wollten: | |
| kleine Kästen, ähnlich wie hier, in denen Zauberbilder vorkamen. Das Kino | |
| als Ort mit Sperrsitz und 90-Minuten-Programm ist im Grunde eine | |
| Spezialform. Die muss nicht ewig sein. Ich liebe sie sehr, insofern will | |
| ich nicht dagegen reden. Aber ich bedaure, dass es nur zehn Filme im Jahr | |
| gibt, die ich im Kino sehen würde. | |
| Ihre Beschäftigung mit Geschichte scheint Ängste vor der Zukunft | |
| auszuschließen. Vermeiden Sie apokalyptische Szenarien in Ihrem Denken, in | |
| Ihren Filmen? | |
| Das ist richtig. Filme sind nicht naturalistisch, sie sind nicht die | |
| Abbildung wirklicher Verhältnisse, die in unserer Welt durchaus bedrohlich | |
| sind. Im Kino gehe ich auf die andere Seite, ich gehe aus der Bedrohung | |
| raus. Die Libido hat keine Lust, sich mit der Apokalypse zu befassen. | |
| Was ist mit dem Todestrieb? | |
| Ich glaube nicht an ihn, wenigstens hat meine Mutter nicht die Tonart | |
| gehabt, ihn mir zu vermitteln. Nehmen Sie den Reichtum der Filmgeschichte, | |
| zum Beispiel die kurzen Filme von Hans Richter, diese hinreißende Welt der | |
| Kunst von 1923 ist immer noch nicht fortgesetzt. Ich mache mit Freunden | |
| zusammen pausenlos Minutenfilme. Da können Sie alles wagen, sogar | |
| Kunstwerke, die ich für 90 Minuten zu kostspielig fände. Der Gegenpol sind | |
| unsere 10-Stunden-Programme im Fernsehen. | |
| Warum greifen Sie die Themen Stadt, Religion und Kapitalismus in Ihrer | |
| Veranstaltungsreihe im Haus der Kulturen der Welt heraus? | |
| Der eine meiner Filme handelt von der Entstehung der frühen Megastädte in | |
| Mesopotamien. Uruk und Babylon wurden in anthropologisch ganz kurzer Zeit | |
| errichtet, dann von Assur erobert oder von Bürgerkriegen zerrissen. | |
| Insofern ist der Turmbau zu Babel die wahre Geschichte einer Stadterfindung | |
| und eine Paradies-Idee. Mich hat immer gewundert, warum in der | |
| Paradieserzählung Gazellen und Löwen friedlich nebeneinander sitzen. Diese | |
| Ur-Städte machten möglich, dass Menschen, die sich sonst totgeschlagen | |
| hätten, sich plötzlich zu Zehntausend, Hunderttausend auf engem Raum | |
| vertragen – kurze Zeit. | |
| In Megastädten heute werden die Armen und Reichen getrennt gehalten. | |
| Das ist die Anti-Stadt. Ich spreche mit Richard Sennett von einer Utopie, | |
| die offenkundig einmal wirklich existierte, dann zerfiel und nie wieder | |
| Wirklichkeit war. Lagos oder São Paulo heute verwechsle ich nicht mit | |
| dieser Utopie. Aber ich glaube, dass das, was einst der Turm von Babel war, | |
| nach innen ging. | |
| Wie meinen Sie das? | |
| In den Menschen entsteht die Stadt, da ist eine Sehnsucht verborgen, und | |
| die ist nicht identisch mit den realen Lebensbedingungen in einer Stadt. | |
| Aber Sie können es in Verdis Oper „Nabucco“ wahrnehmen oder in Rossinis | |
| „Auszug aus Ägypten“. Wenn der Tempel brennt, wird die Schrift zu einer | |
| Kunst, die wie eine bewegte Stadt durch die Welt zieht, in die Diaspora. | |
| Vier Grundvoraussetzungen machen die Entstehung der frühen Städte möglich: | |
| Drogen, in diesem Fall Gerstenbier, damit sich die Menschen kurzfristig | |
| vertragen, zweitens Religionen für den Innenausbau, drittens Buchhaltung | |
| und nicht zuletzt die Schrift. | |
| Welchen Platz räumen Sie dem heute beklagten Mangel an Ehrfurcht vor der | |
| Natur ein? | |
| Das ist wesentlich in meinem Film „Als die Himmel noch miteinander | |
| sprachen“. Gemeint sind die Religionen der Spätantike, die noch nicht | |
| gegeneinander abgeschottet waren. Diese Erzählform, diese Märchen, diese | |
| Roman-Küche der Religionen in der Antike ist etwas, woran ich unglaublich | |
| lernen könnte. Sie ist offenkundig notwendig und unverkäuflich, die gebe | |
| ich nicht auf gegen Säkularität und Wahrscheinlichkeit. | |
| 4 Apr 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Claudia Lenssen | |
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