| # taz.de -- Kolumne Leuchten der Menschheit: Hitlers Selbstmord als Wendepunkt | |
| > Alexander Kluge versucht in seinem neuen Buch „30. April 1945“ die | |
| > Neuorientierung der Deutschen im Untergang des Dritten Reiches zu | |
| > reflektieren. | |
| Bild: Essayist, Filmemacher und Produzent: Alexander Kluge. | |
| „Der Tageslauf ist die Naturform des Erzählens.“ Dieser Satz steht in den | |
| Schlussbetrachtungen von Alexander Kluges neuem Buch „30. April 1945“ | |
| (Suhrkamp Verlag, 2014). Der 30. April 1945, das ist „der Tag, an dem | |
| Hitler sich erschoss und die Westbindung der Deutschen begann“, so | |
| Ausgangsthese und Untertitel des Werkes. Kluge montiert Ereignisse des | |
| achten Tags vor der Kapitulation, um in anekdotischer Form über | |
| Subjektkonstitution und Neuorientierung der Deutschen im Zusammenbruch des | |
| Dritten Reichs zu reflektieren. | |
| Was machten und erlebten Menschen an diesem Tag? Nun, einige kämpften | |
| weiter, wie Cordt Schnibben es in seiner bemerkenswerten | |
| Spiegel-Titelgeschichte „Mein Vater, ein Werwolf“ diese Woche beschrieb. | |
| Zusammenhalten und schweigen. | |
| Autor Kluge versucht die Historizität des Menschen anhand einer Vielzahl | |
| biografischer Ausschnitte zu verdeutlichen. Er erzählt von Frauen, die sich | |
| am 30. April 1945 mit russischen Besatzern arrangierten, von raunenden | |
| Großphilosophen oder eben dem Führer, der seinem Leben am 30. April ein | |
| Ende setzte. | |
| Eine zweiseitige Episode ist dem Adjutanten des Reichsärzteführers Max de | |
| Crinis gewidmet, der sich in der Niederlage von seiner bisherigen Laufbahn | |
| absetzte. Der Adjutant des Massenmörders de Crinis tat dies, indem er auf | |
| das Zeitungsinserat einer „Schweizerin, liebenswürdig und aus sehr gutem | |
| Hause“, antwortete. Die „charmante Frau“ suchte über die Neue Zürcher | |
| Zeitung „einen lieben, kultivierten Herrn“, der in „absehbarer Zeit | |
| auswandern“ möchte, um sich, „im fremden Land, ein sonniges, eigenes Heim�… | |
| zu errichten. Sie wurden ein Paar. Der Adjutant des SS-Standartenführers de | |
| Crinis gelangte so mit falschen Papieren und Schweizer Begleitung nach | |
| Montevideo, Uruguay. „Die beiden hatten fünf Kinder. Später zogen sie um | |
| nach Feuerland.“ | |
| ## Kluge, Sennett, Sassen | |
| Kluge bilanziert nüchtern, bringt auch die eigene Biografie ein. Seine | |
| Großmutter geistert herum. Er, ein 1932 in Halberstadt geborener Junge, hat | |
| eigene Erinnerungen an Krieg und Nationalsozialismus. „Wer die Massaker | |
| nicht erinnert, pflegt sie.“ Man werde, schreibt Kluge, „die Chronik eines | |
| einzelnen Tages nur verstehen, wenn man den Zeitfaden von etwa 140 Jahren | |
| durch ihn hindurchfädelt“. „Weil es einen Tag ohne alle anderen“ nicht | |
| gebe. Und so tritt auch die Gegenwart hinzu. Er notiert einen Anruf, „ein | |
| Projekt mit Richard Sennett und Saskia Sassen ist für 2014 geplant“. In | |
| Berlin saß er dann tatsächlich gerade mit Saskia Sassen zusammen, einer | |
| Ikone der institutionalisierten Kapitalismuskritik. | |
| Deren Vater, Willem Sassen, ein holländischer Nazi, hätte ebenfalls in | |
| Kluges Buch auftreten können. Was SS-Untersturmführer Sassen am 30. April | |
| wohl gemacht hat? Später schaffte er es wie de Crinis’ Adjutant nach | |
| Südamerika. Die Villa Sassen in Buenos Aires war Treffpunkt von Topnazis, | |
| Judenvernichter Adolf Eichmann ging hier ein und aus. | |
| Kluge glaubt an die Erzählung als Grundlage von Begriffs- und | |
| Geschichtsbildung. Assoziativ, multiperspektivisch, analytisch. Vielleicht | |
| sollte er Saskia Sassen helfen, sich der Verantwortung familiärer Herkunft | |
| zu stellen, die sie 2010 in dem Dokudrama „Eichmanns Ende – Liebe, Verrat, | |
| Tod“ noch abzuwehren suchte. Ganz im Kluge’schen Sinne: „Meine Großmutter | |
| mütterlicherseits und deren Urenkelin, die 2014 vier Jahre alt sein wird, | |
| wären gerade das richtige Team für einen Erfahrungsaustausch gewesen.“ | |
| 20 Apr 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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