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# taz.de -- Eröffnung der Lessingtage Hamburg: Die Konflikte aushalten
> Der US-Soziologe Richard Sennett analysiert, wie wir trotz des Alarmismus
> dieser Tage unsere Städte offen gestalten können.
Bild: Ausschnitt aus einer Aufnahme Thomas Struths von Richard Sennett.
Sonntagmorgen, und der Saal ist bis unters Dach gefüllt. Schwer zu sagen,
was den Ausschlag gab: der linksliberale Starsoziologe Richard Sennett,
dessen Vortrag zum Thema „Aufruhr“ die Lessingtage des Hamburger Thalia
Theaters eröffnen soll, oder die Eröffnung selbst. Die Lessingtage laden
seit sechs Jahren mit einem gesellschaftspolitisch gedachten Festival zum
Nachdenken über den Begriff der Toleranz ein. Sich Toleranz auf die Fahnen
zu schreiben, hat in der Hansestadt Tradition. Das Publikum ist überwiegend
ergraut.
Brisanz in die Veranstaltung zu bringen, unternimmt gleich zu Beginn
Intendant Joachim Lux. Anspielend auf die islamistischen Attentate in
Paris, die Krise in der Ukraine, aber auch Pegida in Dresden, sieht er die
„ganze Welt in Aufruhr“. Auf den Zug springt anschließend, in Vertretung
der Kultursenatorin, SPD-Staatsrat Wolfgang Schmidt auf.
Er zieht eine Linie von den Attentaten in Paris zur Sprengung einer
taz-nord-Veranstaltung vorigen Dienstag. Dass Autonome aus dem Umfeld der
gerade von der Stadt zurückgekauften Roten Flora eine Diskussion von
Vertretern aller in der Bürgerschaft vertretenen Parteien zum Thema
„Fluchtpunkt Hamburg“ im Vorfeld der Bürgerschaftswahl am 15. Februar
verunmöglicht haben, wertet er als Symptom einer Gesellschaft, in der
verschiedene Meinungen zunehmend unverbunden nebeneinander stehen.
Solcherlei Dialogverweigerung gefährde den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Man applaudiert entschlossen.
Dialog statt Aufruhr? Dieser Diskussion verweigert sich der in New York und
London lehrende Hauptredner prompt, und zwar in dreierlei Hinsicht. Erstens
spricht Richard Sennett nicht zum anberaumten Thema „Aufruhr“, sondern zu
seiner Vorstellung davon, wie die „offene Stadt“ zu gestalten sei. Dazu
forscht der 72-jährige Professor nach seinen jüngsten Büchern „Handwerk“
(2008) und „Zusammenarbeit“ (2012) nämlich gerade sehr intensiv.
## Allgemeiner Alarmismus
Vom allgemeinen Alarmismus lässt er sich nicht aus dem Tritt bringen. Und
über die Occupy-Bewegung, die einem zum Thema „Aufruhr“ ja ebenfalls hätt…
einfallen können, schließlich hat Sennett sie 2011 mit seiner Ehefrau
Saskia Sassen in New York unterstützt, kein Wort.
Zweitens, und damit sind wir bei seinen inhaltlichen Einwänden gegen die
Beschwörung des Dialogs, betont Sennett in freier Rede, „verstörende
Dissonanzen“ seien nun mal der „zu zahlende Preis“ für das Zusammenleben…
Städten. Das Bedürfnis nach Toleranz dagegen, nach einem
„Alle-sind-nett-zueinander“, halte er für infantil.
Und drittens untersucht Sennett, wie im weiteren Verlauf deutlich wird, das
Zusammenleben nicht als einen verbalen oder dialogischen Vorgang, sondern
schlicht als physische Begegnung unterschiedlicher Menschen.
Neben dem Historiker Mike Davis zählte Sennett zu den Ersten, die die
Aufteilung der US-amerikanischen Großstädte im letzten Viertel des 20.
Jahrhunderts in eine Ansammlung von voneinander abgeschotteten, weitgehend
homogenen Stadtteilen ins Visier nahmen - Stichwort: "gated communities".
## Aushalten von Differenzen
Beide machten darin eine Auflösungserscheinung der Stadt und des
Öffentlichen schlechthin aus. Das Städtische, mahnten sie, beinhalte
notwendig das kollektive Aushalten von Differenzen und Konflikten. Sennett,
wie nun wieder zu hören, betont das bis heute. Für jüngere Urbanisten
gehört das Diktum zum theoretischen Handgepäck.
Sennetts Vortrag dreht sich denn auch vor allem darum, wie Begegnungen von
Verschiedenen stadtplanerisch zu ermöglichen sind. Dazu trifft er die
Unterscheidung zwischen innerstädtischen Grenzen (borders) und Begrenzungen
(boundaries).
Erstere, die guten, wie er anhand einiger Dias von der Zellmembran und
zahlreichen Aufnahmen aus Städten in aller Welt illustriert, seien
notwendig porös. Die Menschen unterschiedlicher sozialer oder ethnischer
Herkunft könnten sie in jede Richtung überqueren. Letztere, wie etwa eine
große, mehrspurige Verkehrsader oder das überdeutliche, direkte
architektonische Nebeneinander einer Favela hier und luxuriöser
Appartmentbauten dort, seien durch Undurchlässigkeit gekennzeichnet.
Kaum zu glauben, dass derselbe Richard Sennett, der solch wohlig nach
Wissenschaft klingenden Worte gegen die Seelenlosigkeit heutiger
Stadtentwicklung vorbringt, zuvor die Toleranz-Netten ein wenig vor den
Kopf stoßen wollte. Überraschend beantwortet er schließlich wenigstens eine
der eingangs aufgeworfenen drängenden Fragen. Das Pegida-Phänomen sei
darauf zurückzuführen, dass den Dresdnern die Begegnung mit Muslimen fehle.
Lang anhaltender Applaus begleitet den Redner von der Bühne.
26 Jan 2015
## AUTOREN
Christiane Müller-Lobeck
## TAGS
Hamburg
Thalia-Theater
Islamophobie
Städte
Alexander Kluge
Weihnachten
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