| # taz.de -- Soziologe Richard Sennett über Weihnachten: „Ich bin nicht nosta… | |
| > Der britische Soziologe Richard Sennett lässt es über die Feiertage ruhig | |
| > angehen. Ein Gespräch über Smartphones, Handarbeit und Marx. | |
| Bild: Spazieren an Weihnachten sollte man in milderen Gegenden als hier, am Kap… | |
| Richard Sennett: Ms. Barmeyer, über was wollen wir reden? | |
| taz: Über das Problem, Freizeit und Arbeit heute zu trennen, und über | |
| Weihnachten. | |
| Fangen wir mit den ernsten Dingen an. Reden wir über Weihnachten. | |
| Wie feiern Sie Weihnachten? | |
| Ich bin ein vollkommener Atheist. | |
| Feiern Sie Weihnachten dann überhaupt? | |
| Ich feiere mit Freunden in der englischen Provinz. Am 25. Dezember gehen | |
| wir dort auf einen sehr langen Spaziergang durch die ländliche Gegend. | |
| Klingt sehr entspannt. Gibt es bei Ihnen eine Arbeitsteilung? Einer kocht, | |
| der andere schmückt das Haus? | |
| Ich koche und ich mag es nicht, wenn der Rest meiner Familie die Küche | |
| besetzt. | |
| Wurde Weihnachten entfremdet? | |
| Für mich ist das alles nur Mythologie. Weihnachten ist einfach ein schöner | |
| Tag, um spazieren zu gehen. Ich habe meinem Sohn nie erzählt, dass es den | |
| Weihnachtsmann gibt. Er hätte mir das sowieso nie geglaubt. | |
| Eigene Kindheitserinnerungen? | |
| (lacht) Rein gar nichts. Ich bin nicht nostalgisch. Für mich ist es einfach | |
| nur ein schöner Tag um spazieren zu gehen. | |
| Aber Sie haben frei an Weihnachten? | |
| Ja, weil in Großbritannien alles geschlossen hat. | |
| Was machen Sie, wenn Sie nicht schreiben oder lesen? | |
| Ich mache diese langen Spaziergänge auf dem Land. Und jetzt lassen Sie uns | |
| über die frivolen Dinge wie Arbeit sprechen. | |
| Heute sind wir per Smartphone überall erreichbar und können arbeiten. Ist | |
| es da utopisch, Arbeit und Freizeit von einander zu trennen? | |
| Vor über zwanzig Jahren haben die Menschen das Ende der Arbeit prophezeit. | |
| Mittlerweile erleben wir genau das Gegenteil davon. Durch die neuen | |
| Technologien ist man zwölf oder vierzehn Stunden täglich für das Büro | |
| erreichbar. Ich glaube, dass die Arbeit die Zeit kolonisiert hat, die | |
| früher mal Freizeit war. Offizielle Arbeitszeiten sind im Laufe der Jahre | |
| beständig gestiegen. In Ländern wie Frankreich, wo es eine offizielle | |
| Obergrenze gibt, arbeiten die Leute einfach länger – inoffiziell und | |
| unbezahlt. | |
| Hat sich der Traum vom selbstbestimmten Arbeiten in einen Albtraum der | |
| Selbstausbeutung verwandelt? | |
| Die Idee, seine Arbeitszeit selbst kontrollieren zu können, ist | |
| illusorisch. Tatsächlich ist man immerfort auf Abruf und im Auftrag der | |
| Bedürfnisse eines anderen unterwegs. Es erfordert großen Mut, die | |
| abendlichen Mails vom Chef erst am nächsten Morgen zu öffnen. | |
| Wie kommen wir da wieder heraus? | |
| Man muss bereit sein zu sagen: Nichts oder nur sehr wenig ist so wichtig, | |
| dass es nicht warten kann. Die gefährliche Tendenz dieser totalen | |
| Kommunikation besteht darin, dass alles sofort gemacht werden muss. In | |
| meinem Büro haben wir deshalb eine strenge Regel, an die wir uns alle | |
| halten: Keine Mails nach sechs Uhr abends. | |
| Schön. | |
| Man muss sich gegenseitig respektieren. Aber wir befinden uns natürlich im | |
| Kontext einer Universität. Da ist es einfach, so eine Regel aufzustellen. | |
| Die Geschäftswelt tickt anders, da wird man schnell zum Sklaven des | |
| Terminplans. | |
| Besitzen Sie ein Smartphone? | |
| Natürlich. Das sind wunderbare Dinger. Ich habe eine Wetter-App und eine | |
| zur Abfrage von Zugverbindungen. | |
| Helfen uns gescheiterte Ideologien wie der Marxismus, die Arbeitswelt von | |
| heute zu verstehen? | |
| Wir reden gerade über die Gewinnung von Mehrwert aus Arbeitskräften. Ich | |
| bin ein sich erholender Marxist. Es gibt Leute, die sind genesende | |
| Alkoholiker, ich bin ein genesender Marxist. Deshalb schaue ich immer auf | |
| die Dinge, bei denen Marx richtig lag, anstatt auf die, bei denen er falsch | |
| lag. Das Internet ist ein wunderbares Beispiel für die Gewinnung von einem | |
| Arbeitskräfteüberschuss. | |
| Inwiefern? | |
| Man gewinnt ein Überangebot an Arbeit, wenn jemandes Zeit nicht seine | |
| eigene ist. Es ist zwar wahr, dass Marx darüber nachgedacht hat, im Bezug | |
| auf den Stundenlohn im Verhältnis zu Arbeit, aber das Prinzip ist dasselbe | |
| in der Kommunikationstechnologie: Wenn Sie mich jedes Mal bezahlen müssten | |
| für jede Mail, in der Sie mich bitten etwas für Sie zu tun, würde die Zahl | |
| der Anfragen drastisch sinken. Wir befänden uns in einer viel gerechteren | |
| Situation. Aber tatsächlich können Sie mich umsonst erreichen, etwas | |
| unentgeltlich von mir verlangen und Fragen stellen. Wenn ich Ihr | |
| Angestellter bin, muss ich darauf antworten. Ich kann nicht einfach sagen, | |
| meine Antwort kostet drei Euro. So funktioniert das nicht. | |
| Welche Bedeutung hat das Handwerk in der Wissensgesellschaft? | |
| Es gibt viele verschieden Arten, wie man digitale Kommunikation als | |
| Handwerk nutzen kann. | |
| Und zwar? | |
| Viele Ärzte operieren beispielsweise aus der Ferne. Das Bild, das wir vom | |
| Handwerk haben, also dass man physisch anwesend sein muss, um etwas zu | |
| erschaffen, ist veraltet. Worauf es nicht zutrifft, ist die bloße Anzahl | |
| der Nachrichten, die Leute miteinander per Mail oder via Twitter | |
| austauschen. Niemand würde sagen: „Du twitterst aber gut.“ Darüber denken | |
| wir nicht weiter nach, aber wir machen uns Gedanken darüber, wenn wir das | |
| Internet dafür benutzen, um über Dinge wie medizinische oder | |
| wissenschaftliche Verfahren zu kommunizieren. | |
| Aber ist das Benutzen von Sprache nicht auch ein handwerklicher Akt? | |
| Schon, aber nicht die Sprache von Twitter. | |
| Glauben Sie, Menschen wären glücklicher, wenn mit ihrer Hände Arbeit etwas | |
| erschaffen, sie also im Wortsinn ein Handwerk ausüben würden? | |
| Menschen sind glücklicher, wenn sie Qualitätsarbeit leisten. Die meisten | |
| Menschen zumindest. Viele meiner Kollegen halten das für eine romantische | |
| Vorstellung. Es herrscht der Glaube, man wolle bloß bezahlt werden und | |
| denke nicht über die Qualität der Arbeit nach. Diese Art Zynismus ist | |
| falsch. Wenn du acht Stunden am Tag damit verbringst etwas zu tun, was du | |
| bedeutungslos findest, wirst du es schlecht machen. Ich bin nicht zynisch | |
| auf diese Weise. | |
| Können wir dennoch eine frohe Botschaft für zukünftige Arbeitswelt | |
| verkünden? | |
| (lacht) Europa wird sich erholen und die Menschen werden neue Arten der | |
| Arbeit finden. Wahrscheinlich werden sie viel manueller sein, als man | |
| erwartet hätte. Vielleicht ist das unrealistisch, aber ich denke, dass es | |
| viele Arten physischer Arbeit gibt, die einen sehr erfüllen können – wie | |
| etwa die Arbeit eines Zimmermannes. Letztendlich werden wir eine viel | |
| ausgeglichenere Idee davon haben, was Arbeit bedeutet. Die Leute werden | |
| Arbeit finden. Ich glaube nicht, dass Europa fertig ist und denselben Weg | |
| geht wie Japan. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das nicht passiert und | |
| damals ging es schlimmer zu. Wir werden uns wieder erholen. | |
| Ihr Fazit? | |
| Wegen Weihnachten nochmal. Ich habe eine sehr bestimmte Meinung darüber: | |
| Wir Atheisten sollten Weihnachten zusammen verhindern und alle einen | |
| Spaziergang machen. | |
| 24 Dec 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Mareike Barmeyer | |
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