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# taz.de -- Schlagloch Christuslegende: Aller Anfang ist heil
> Mit jeder Geburt kommt ein neues Quäntchen Freiheit auf die Welt. Diese
> Idee begeisterte einst Hannah Arendt: Mit der Notiz „Was für ein Werk“
> lobte sie die Christuslegende.
Bild: Wunder der Erneuerung: „Uns ist ein Kind geboren“.
„Vor allem in den nördlichen Breiten“, so steht’s in Wikipedia, „beste…
das Bedürfnis, zur Belebung und Stärkung von Binnenbeziehungen, besonders
in der Familie, Weihnachten zu feiern.“ Mithilfe von Bach’schen Trompeten,
Leuchtsternen, Kerzen, Federvieh und Spekulatius – und dem Gang in die
Kirche, meist dem einzigen im Jahr.
Nichts dagegen, aber meine erste Christmesse, vor fünfzig Jahren, war eher
eine Flucht aus dieser Binnenbeziehung. Wie es sich eben gehört, wenn man
achtzehn ist. Meine vier besten Freunde und ich hatten in unseren
Herkunftsfamilien Ente, Würstchen oder Geflügelsalat zu uns genommen;
hatten in unseren vollsäkularisierten Elternhäusern ein paar Strophen
gesungen; wir hatten geschenkt und uns gefreut über die bestellten
Geschenke.
Aber dann, kurz vor elf, hatten wir gesagt: Wir wollen noch in die Kirche.
Das führte zu Stirnrunzeln. Sie ahnten, das ging gegen die Binnenbeziehung,
aber gegen Kirche konnten sie schlecht etwas sagen. Und so trafen wir uns
an der Marktkirche, zum ersten Mini-Flashmob.
Und landeten vor der Krippe. Denn man kann dieser Geschichte nicht
entkommen, ob man nun Christ ist oder nicht, ob man vor ihr wegrennt oder
nicht. Dafür ist sie einfach zu gut. Aber warum eigentlich? Was verbindet
uns, die neunzig Prozent, die nicht Christen im strengen Sinne sind, mit
der Krippe und der Heiligen Familie? Die Legende von Bethlehem ist
bekanntlich der Teil des Neuen Testaments, der am wenigsten mit
historischen Realitäten zu tun hat.
Es eignet sich eigentlich nicht recht zur Kleinfamilienidealisierung, wie
sich der verwitwete Baumeister Joseph erst mit priesterlich sanfter Gewalt
breitschlagen lassen muss, eine entlassene Tempeljungfrau zu heiraten, sich
dann um das Kind, mit dem sie von einem Unbekannten schwanger geworden ist,
kümmert, als wäre es sein eigenes. Und der erwachsene Jesus ist schon gar
kein Familienmensch. Er forderte seine Anhänger gar auf, mit ihren Familien
und ihren Gewohnheiten zu brechen, und verkündete das Prinzip eines Bundes
ohne Bluts-, Herkunfts- und Stammesbande, ohne Herrschaft und zementierte
Eliten. Die allgemeine Familie.
## „Was für ein Werk“
Diese welthistorische Revolution ist bis heute nicht vollendet. Und genau
deshalb ergibt dieses Fest, das wir Weihnachten nennen, das in den
lateinischen Gegenden einfach „Geburt“ heißt, immer noch und immer weiter
und, pardon, bis ans Ende der Geschichte Sinn, weit über den Baum und die
Geschenke hinaus und völlig ohne Metaphysik. Deshalb ist es vielleicht ein
guter Grund auch für Skeptiker oder Ungläubige, einmal im Jahr in die
Kirche zu gehen.
„Uns ist ein Kind geboren“ – der Satz berührt fast jeden. Uns allen, soll
das heißen, ist ein Kind geboren: als Folge von etwas, das Liebe oder Lust,
oder, wenn es gut ist, beides war. Und deshalb ist es mehr als ein
natürliches oder familiäres Ereignis. Es hat philosophische Tiefe.
„Natalität“ nennt Hannah Arendt dieses Wunder nie endender möglicher
Erneuerung.
„Was für ein Werk“, notierte sie, als sie sieben Jahre nach dem Ende des
Hitler-Reiches aus der New Yorker Emigration nach Deutschland reiste und in
München den „Messias“ hörte. „Was für ein Werk. Das Halleluja liegt mir
noch im Ohr und in den Gliedern. Mir wurde zum ersten Mal klar, wie
großartig ist das: Es ist uns ein Kind geboren. Das Christentum war doch
nicht so ohne. Die tiefe Wahrheit dieses Teils der Christuslegende: Aller
Anfang ist heil.“
Natalität, das heißt: Mit jeder Geburt kommt ein neues Quäntchen Freiheit
in die Welt. Jedes Neugeborene steht für die reale Möglichkeit des Neuen
auf der Welt. „Frohe Botschaft“ ist kein Versprechen auf Glück, sondern auf
Freiheit. Freiheit, zu heilen, Freiheit zum Kaputtmachen. Freiheit zum
Stumpfbleiben, Freiheit für das Unwahrscheinliche. Dass dereinst ein
Heiland alles richten wird, dahin reicht der Glauben der meisten nicht.
Wohl aber dahin, dass „die Möglichkeit der Errettung der Welt“, wie Hannah
Arendt schreibt, „darin liegt, dass die Menschheit sich fortwährend neu
bilde“.
## „Er ist jetzt einer von uns“
Das ist keine Utopie und mehr als ein Prinzip Hoffnung. Andere Gattungen
verändern sich nicht, die Menschengattung kann nicht anders, weil jeder
Mensch ein Neuanfang in der Welt ist, für sich wie für die anderen –
deshalb „können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in
Bewegung setzen“, sind sie imstande, „solange sie handeln können, das
Unwahrscheinliche und Unerrechenbare zu leisten, ob sie es wissen oder
nicht“. Sie können abweichen vom eingefahrenen Weg der Gattung, der
Gesellschaft, der Gemeinde.
Aber sie können es nicht ohne diese. „Dies ist Giovanni. Er ist jetzt einer
von uns“, so habe ich einmal einen alten Priester in Venedig einen Täufling
in die Luft halten sehen, und die Gemeinde jubelte dem winzigen Kerl zu. Er
–oder sie – ist jetzt einer von uns. Uns ist ein Kind geboren, aber niemand
weiß, was aus ihm werden wird: eine Revolutionärin oder ein Kapitalist,
Mutter Teresa oder Stalin, eine Pennerin oder ein guter Klempner. Es wird –
zum größten Teil – von uns abhängen. Wir müssen ein Auge auf es haben.
Und mit dem Augen-Blick fängt die Möglichkeit der Veränderung an. Von allen
Mariendarstellungen ist mir deshalb, trotz der beiden neckischen Engel, die
Sixtinische Madonna die Liebste. Wegen dieses Augen-Blicks. Auf den meisten
Bildern blickt Maria auf das Kind, suchen ihre Augen seine. Raffael geht
einen Schritt weiter: Bei ihm blicken Maria und Jesus gemeinsam in die
Welt. Nicht gerade froh über den Zustand dieser Welt, und eher sorgenvoll
auf das, was auf sie zukommt. Aber es ist ein gemeinsamer Blick.
## Jesus meets Beatles
Die Entwicklungspsychologen sagen uns, dass die Geburt des Menschen als
sozialem Wesen mit diesem gemeinsamen Blick des Neuankömmlings und seiner
ersten Personen auf die Gegenstände dieser Welt beginnt. Joint attention
nennen sie diesen Blick, und diese gemeinsame Aufmerksamkeit ist die
Grundlage für gemeinsame Absichten und gemeinsames Handeln, für Sprache und
Kooperation.
Und wo das stattfindet, überall dort, wo Menschen frei – und gemeinsam –
auf die Welt blicken und handeln, kann das Unwahrscheinliche und
Unerrechenbare, von dem Hannah Arendt spricht, geschehen. Sie nennt es ein
Wunder – aber es ist ein Wunder ganz von dieser Welt. Völlig ohne
Metaphysik.
Ob wir an so etwas gedacht haben, im Dezember 1965, als wir unsere
Herkunftsfamilien flohen und uns zu unserem Mini-Flashmob vor der Krippe in
der Marktkirche trafen, unter dem roten Weihnachtsstern? Ich weiß es nicht
mehr, auch nicht, über was wir danach geredet haben, beim Gang durch die
leere, verschneite Stadt. Aber wenn ich mich recht erinnere, saßen wir
später in der Nacht zusammen und hörten immer wieder ein Lied der Beatles,
das gerade herausgekommen war: „We can work it out“.
24 Dec 2012
## AUTOREN
Mathias Greffrath
## TAGS
Weihnachten
Hannah Arendt
Freiheit
Ostern
Papst
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Schafe
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