# taz.de -- Alexander Kluge über Karl-Marx-Filmessay: "Das verflüssigt Marx" | |
> Alexander Kluge hat seinen neunstündigen Filmessay über Karl Marx in 90 | |
> Minuten zusammengefasst. Ein Gespräch über Sergej Eisenstein, das Kapital | |
> als Ich-Erzähler und das bemerkenswerte Jahr 1929. | |
Bild: "Der ist ja ein sehr kluger Mann, der Helge Schneider": Alexander Kluge. | |
taz: Herr Kluge, das ist ja schön, dass Sie mit der Kurzfassung Ihres | |
"Kapital"-Projekts nach Hamburg kommen. | |
Alexander Kluge: Das ist keine Kurzfassung. Wir haben folgende Theorie: Man | |
muss alles, was einem am Herzen liegt, künftig für online machen, da ist es | |
eine Minute lang. Bei DVD kann es bis zu zehn Stunden lang sein. Und im | |
Kino sind es 90 Minuten, eine Urinlänge. | |
Und wie lang ist die DVD? Manche sagen, zehn Stunden, manche neun. | |
Neun, also 580 Minuten genau. | |
Das "Kapital" ist auch sehr lang. | |
Ja, und Eisenstein hatte ja vor, das "Kapital" nach dem Vorbild von | |
"Ulysses" von James Joyce zu verfilmen, und das ist auch ein langes Buch. | |
Die einzelnen Stücke auf der DVD sind ja ganz kurz. Tom Tykwer hat einen | |
wunderbaren Film gemacht von zwölf Minuten, das ist das Beste von dem | |
Ganzen. Dann sind die meisten Stücke zwei bis fünf Minuten. Und dazwischen | |
ist dann auch gründliche Theorie, also Sloterdijk kann man nicht unter 45 | |
Minuten, Oscar Negt auch nicht, Dietmar Dath auch nicht. | |
Was passiert dann eigentlich in der Kinofassung? | |
Da fallen die großen Interviews raus außer einem, nämlich dem Enzensberger, | |
den wir aber gekürzt haben. Der ist ja 1929 geboren, und der Film geht ja | |
davon aus, dass Eisenstein 1929 gedreht hätte, und das ist der Zeitpunkt | |
des Schwarzen Freitag. Wir haben den Film genannt: "Nachrichten aus der | |
ideologischen Antike", weil wir dachten, es ist ein zurückliegender Bericht | |
von 1929, und Marx ist geboren 1818, also aus älteren Zeiten, der ist schon | |
unter die Sterne versetzt. | |
Ja, und dann kommt die Finanzkrise. | |
Wobei Marx dazu nur sehr Allgemeines sagt. Er hat ja sehr günstige Worte | |
für das Produktionskapital, das würde er sehr bewundern. Also das Quartier | |
St. Antoine, die Handwerker von Paris, da würde er sagen, das ist positiv, | |
das ist revolutionär. Das Finanzkapital ist britisch, das fängt mit | |
Sklavenhandel an, das geht am schnellsten. Das verteufelt er sehr stark. | |
Früher Sklaven, jetzt Immobilien. | |
Absolut. Und ich muss sagen, wenn Menschen in Amerika ihr Haus einfach im | |
Stich lassen, so wie 1939 in "Früchte des Zorns", wenn sie alles auf | |
Lastwagen laden und wegfahren, ohne Hinterlassung einer Adresse, also | |
Flucht aus dem Eigentum, dann ist das schon eine Metapher, die mich sehr | |
bewegt. Weil die Hypotheken so schwer sind, obwohl sie eigentlich irreal | |
sind, dass sie so ein Eigentum wegdrücken, die Menschen verjagen. Er würde | |
auch sagen, wenn die Produktion im Kapitalismus platzt, und stärkere | |
Absatzwünsche hat, als Menschen irgendwas konsumieren können, dann gibt es | |
eben die Bewegung nach rechts, dann holt sich das Kapital ältere, | |
barbarische Kräfte oder die Wiederherstellung der Religionen. | |
Wird der Kapitalismus zusammenbrechen? | |
Wird er nicht. Wenn Sie Marx aufmerksam lesen, stellen Sie fest, dass er | |
eine hohe Achtung hat. Die Teile, die er über den Zusammenbruch des Ganzen | |
erzählt, sind ganz kurz und ganz knapp und stehen nicht im "Kapital". | |
Im dritten Band gibt es den "tendenziellen Fall der Profitrate". | |
Das ist das einzige Mal, wo er die Vorhersage macht, dass das Kapital sich | |
automatisch selbst abschafft. Tut es aber nicht, denn dann fängt es auf | |
einer einfachen Stufe wieder an. Ich habe als junger Mensch, mit 13 Jahren, | |
das Jahr 1946 erlebt. Und ich muss sagen, da ist ja kein Kapital, und da | |
ist einen Moment lang auch keine Staatsherrschaft, und wie da aus uns | |
heraus, aus den Müttern, aus den älteren Geschwistern, das Ganze in Gang | |
kommt als Naturalwirtschaft, das ist imponierend und zeigt, dass wir längst | |
den Turm von Babel und die Tauschgesellschaft in uns haben. | |
Wollte Eisenstein das "Kapital" wirklich nach dem Vorbild des Ulysses | |
verfilmen? | |
Ja, das sollten so wie bei Richard Wagner fünf Abende werden, ein recht | |
langer Film. Und der hat auch den Joyce in Paris besucht, und zwar zwei | |
Wochen nach dem Schwarzen Freitag, und da haben sie ausgeheckt, was sie | |
zusammen machen. Wenn da irgendein Geld vorhanden gewesen wäre, wäre das | |
ein Film geworden. Aber das Zentralkomitee hatte Schiss, Trotzki war gerade | |
im Ausland und Hollywood hat es nicht bezahlen wollen, die haben es auch | |
gar nicht verstanden. Nun hat Eisenstein dabei aber eine Menge Gedanken | |
entwickelt, wie man Filme überhaupt machen soll: Man soll keine lineare | |
Handlung machen, es sind Kommentarwerke. | |
Da klingt ja ganz nach Ihnen! | |
Wenn mir etwas gefällt, dann sind das seine Vorsätze. Das ist deswegen zehn | |
Stunden lang, weil so viele da mitarbeiten, da muss man ja die ganzen Töne | |
unterbringen. Der Durs Grünbein erläutert das Kommunistische Manifest in | |
der Hexameter-Version von Bert Brecht, also kürzer als elf Minuten kann ich | |
das nicht machen. Aber es klingt gut, und über Telefon ist das sehr | |
komisch. Und wenn Sie den Sloterdijk haben, der wirklich erzählen kann, der | |
erzählt über den Warenfetisch: Alle Dinge sind verzauberte Menschen, das | |
heißt Menschen stecken das Beste in die Produktion, da vergegenständlichen | |
sie sich, und eigentlich könnte ein Mensch des anderen Spiegel sein, wenn | |
er erkennen würde, dass alle Dinge von ihnen gemacht sind. Aber das ist im | |
Grunde nicht richtig möglich. | |
Das ist die systematische Täuschung, von der Marx spricht. | |
Das ist eigentlich der Kern von ihm, das ist das stärkste Bild, das er hat. | |
Und deswegen wird das Glitzern der Warenwelt leider nie nachlassen. Obwohl, | |
es ist ja auch schön, wenn es glitzert. | |
Es ist schön, wenn es glitzert, das sage ich ganz ehrlich. Wenn das | |
Glitzern weg ist, sehnen Sie sich danach. Ich kann mir unter dem | |
sozialistischen Menschen schon etwas vorstellen, aber das wäre eine | |
Steigerung des bürgerlichen Menschen - der ohne seine Zwänge. | |
Gibt es keine Hoffnung für die befreiten Produktivkräfte, die einfach | |
angeeignet wären? | |
Ich bin mir ganz sicher. Hier gibt es eine Filmsequenz, da haben die | |
trotzkistischen Genossen 1929, eine Woche nach dem Schwarzen Freitag, | |
gesagt: Wir haben im Ural Smaragdvorkommen. Sie haben güterzügeweise solche | |
Waren an die Grenze gestellt, die sollten rüber bis New York, und wenn | |
General Electrics in der vorigen Woche noch 535 Dollar die Aktie kostete | |
und jetzt 35 Cents, dann können die Werktätigen eigentlich das Kapital | |
kaufen. Denn die Kapitalisten verkaufen ja noch den Strick, an dem sie | |
gehängt werden, heißt es. Das haben sie aber nicht gemacht, und die | |
Trotzkisten waren inzwischen auch in der Minderheit in Moskau, und den Mut, | |
den die Russen 1945 hatten, als sie bis Berlin gefahren sind, den hatten | |
sie 1929 nicht. Da gehört viel Selbstbewusstsein dazu und eine Bestätigung | |
in der Öffentlichkeit, dass so etwas möglich ist. Die Chinesen können heute | |
ja so was kaufen. | |
Vielleicht tun sie es ja. Aber wäre das die Befreiung der Produktivkräfte? | |
Gar nicht. Das ist ja alles Distribution. Aber interessant ist, wie wacklig | |
der ganze Überbau ist. Als Gefühl muss man sich das mal vorstellen, dass | |
zumindest Genossen so eine Idee mal hatten. | |
In Ihrem Marx-Projekt spielt auch Helge Schneider mit. | |
Der macht drei Rollen, einmal als Stahlarbeiter, der jetzt aber Hartz IV | |
hat, und der abends immer um 17 Uhr in die Volkshochschule geht und im | |
zweiten Bildungsweg Marx-Kurse belegt hat, aber die Fabrik ist leider weg. | |
Und er reflektiert darüber, wie alt er im Verhältnis zu Heesters, Marx und | |
so ist. Der ist ja ein sehr kluger Mann, der Helge Schneider. Und zweitens, | |
nachdem er in dem Film von Dani Levi doch den Hitler gegeben hat, ist er | |
jetzt gefragt worden, ob er Marx-Darsteller werden will. | |
Hat er dann auch Bart? | |
Er hat Bart, aber den kann man abnehmen, den kann man als Toupet tragen, | |
aber er spielt mit dem Bart und erzählt, wie er das anlegen würde in | |
Erinnerung an die Marx-Brothers. Und drittens ist er noch als Komponist | |
tätig und spielt vor, wie er diesem Film von Eisenstein begleiten würde. | |
Das Wesentliche sind diese verschiedenartigen Töne, also Oskar Negt spricht | |
sehr ernst, Enzensberger ist befangen, weil es ist sein Jahr, und da ist | |
eben der Schwarze Freitag und auch andere unheimliche Dinge, und das bewegt | |
ihn, weil es sein Geburtsjahr ist. Habermas, Enzensberger, Günter Gaus und | |
Heiner Müller: alle Jahrgang 1929. Und wenn Sie so einen Marx-Satz nehmen | |
wie: Die Industrie ist das aufgeschlagene Buch der menschlichen | |
Wesenskräfte, wenn Sie das hören mit Musik von Verdi aus den "Räubern", | |
dann kriegt das ebenfalls eine andere Temperatur, mehr den Charakter einer | |
Schulpause als einer Schulungsstunde. Die Musik tickt einfach in einer | |
anderen Hirnhälfte, und das tut dem Marx sehr gut, das verflüssigt ihn. | |
Das ist Teil das Projekts? | |
Ja, und Dietmar Dath spielt eine große Rolle, und wenn der so ganz klar | |
erzählt, wie das Kapital sich erklären würde, wenn es sprechen und "ich" | |
sagen könnte. Das ist der wesentliche Inhalt des "Kapital". Das Buch, das | |
wir gerne hätten von Marx, wäre: Die politische Ökonomie der Arbeitskraft, | |
die politische Ökonomie der Revolutionen, und so weiter. Das hat er ja | |
nicht geschrieben. Dass man dafür einen Sinn hätte, das sich das noch | |
einmal öffnen könnte. | |
Marx ist ja gar nicht so festgelegt wie der Marxismus. | |
Nimmt man ihn als Poeten, was man mit den Augen Eisensteins ja machen darf, | |
dann kriegt er einen Charakter, und er hat ja aufgeschrieben, was man alles | |
verfilmen soll: Die Börse soll man verfilmen in Form der Conciergen in | |
Paris, die Staatsanleihen in Russland vor 1914 gekauft haben. Und jetzt | |
zahlt die Sowjetunion nicht zurück, also ist der Kommunismus erledigt. | |
Deswegen ist das so lang. | |
Dass es lang werden muss, ist klar. Aber wie kann es kurz werden? | |
Da wird erst mal so zehn Minuten lang vorgestellt, was Eisenstein wollte. | |
Und die Oksana Bulgakowa, das ist seine Biografin, die erzählt warmherzig, | |
wie er Joyce trifft. Er hat dann statt dieses großen Vorhabens des | |
"Kapital" einen Werbefilm über Milch für Nestlé hergestellt. Nestlé war | |
begeistert, das erzählt die Bulgakowa, die hatten in "Die Generallinie" | |
diese Orgie über Molkereien gesehen, und wie die Frau sich mit Milch | |
bespritzt. So was wollten sie haben. Und dann hat er noch für die Geliebte | |
eines russischen Perlen-Oligarchen einen Film gemacht über Liebe. Wie | |
gesagt, er kam nicht zu dem Projekt, aber er hat sehr genau hingeschrieben, | |
was er wollte. Und er sagt, entweder können wir Marx wirklich verfilmen, | |
oder das Vorhaben scheitert, und das ist dann eine wunderbare Kritik an der | |
Filmkunst, die sich dann eben ändern muss. Auch gut. Und dann kommt als | |
nächstes Kapitel das Lamento der liegen gebliebenen Ware, das sind ganze | |
drei Minuten, aber das bringt Musik von Monteverdi bis zu Riehm und | |
erzählt, wenn am Samstag die Waren liegen bleiben und am Montag sind sie | |
nicht mehr gut, dann würde man traurig sein über diese Waren. | |
Müsste man die Waren befreien? | |
Ja, unbedingt! Denn auch Waren haben ein Menschenrecht, es steckt ja | |
menschliche Arbeit drin. Um solche Gefühle geht es eigentlich. Mehr machen | |
wir gar nicht. | |
15 Dec 2008 | |
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