# taz.de -- Was hinterlässt Günter Grass?: Olymp der Old Boys | |
> Die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz analysiert das Werk von Günter | |
> Grass und findet: Er hat viel verändert und am Ende doch gar nicht so | |
> viel. | |
Bild: Gleichberechtigung war nicht sein Ding: In Grass' Olymp gab es Götter, a… | |
Im Gedicht „Schande Europas“ (Mai 2012) entwirft Günter Grass Europa als | |
eine Macht, deren territoriale Kontrolle Griechenland in eine schändliche | |
Situation gebracht hat. Das Land ist „dem Chaos nah“, es „leidet“, und … | |
ist „zur Armut verurteilt“. | |
Zwar ist das nur über Metaphern beschriebene Griechenland „inselgesegnet“, | |
aber „mit der Waffen Gewalt heimgesucht“ und „kaum noch geduldet“ ist d… | |
Land „rechtlos“ geworden. Metaphorische Bewegungen finden in diesem Gedicht | |
in einem Territorium aus Metonymien statt. Metonymien, die „das Land“ an | |
Stelle der verantwortlichen oder notleidenden Personen setzen. Alle | |
Schmähung und Ver-anderung, die im Nationalismus den Weg zum Krieg ebnen, | |
wird hier zur Schande eines Kontinents zusammengezählt. Obwohl. Mit Europa | |
ist hier vor allem Deutschland gemeint. Träger der Schande ist ein | |
lyrisches Du, das nur in der 5. Strophe nicht angesprochen wird. Da geht es | |
um die Besatzung Griechenlands durch die Truppen der Nationalsozialisten. | |
Und. „Die“, die „trugen zur Uniform Hölderlin im Tornister“. | |
Nun. Da lag ziemlich sicher eines der nationalsozialistischen | |
Gedichtauswahlbändchen im Tornister, und es ging um die lyrische Befeuerung | |
der damaligen deutschen Kampfkraft. Ein Gedicht wie Hölderlins „Der Tod | |
fürs Vaterland“ wünscht sich auch metaphorische Bewegungen in metonymisch | |
entworfenen Territorien. Die Gewalt, die Hölderlin gegen die Fürsten | |
richten wollte, lässt sich auch anders lesen und mit Vaterland war auch da | |
schon ein Deutschland gemeint. | |
In Grass’ Gedicht gibt es statt des Vaterlands das Regime dieses europäisch | |
deutschen Du, dem am Ende von Sokrates und den Göttern verflucht die | |
geistlose Verkümmerung prophezeit wird. | |
## Gedicht als Anwalt des Landes | |
Aber. Der Sieg dieses Du steht schon zu Beginn des Gedichts fest. „Unter | |
Schrottwert taxiert“ ist das Land schon zerstört. Und. Es ist „das Land“ | |
zerstört. Es steht das Land am Pranger. Es leidet das Land. Das Land wird | |
zur Armut verurteilt, und das lyrische Du repräsentiert das Regime, das die | |
Verurteilung dieses Territoriums ausspricht. Das Gedicht macht sich selbst | |
zum Anwalt des Lands. Die Autorposition ist vollkommen mit dem „Land“ | |
identifiziert und stattet dieses Land auch grammatikalisch als passives | |
Objekt aus. Im Territorium des Gedichts wird dann territorial verhandelt. | |
National territorial. Und über diese territorialen Setzungen werden | |
neuerlich Grenzen hochgezogen. | |
Das Gedicht ver-andert Griechenland. Diese Ver-anderung ist in sich positiv | |
verkehrt, aber es bleibt bei der Ver-anderung. Nationalismus in sich | |
verkehrt ergibt nur das Gegenteil und noch keine Entgrenzung. Und. Das | |
„Land“, das mit allen Bedeutungen einer nationalistischen Beschreibung hier | |
freundlich aufgeladen wird, das steht dann auch anderen Lesarten offen. Wie | |
das Hölderlin-Gedicht. Mit den Personen und Schicksalen da. Mit den | |
Machtverhältnissen, die längst übernational angeordnet sind. Damit hat das | |
alles dann nichts zu tun. | |
In allen Nachrufen wird Günter Grass als Stimme Deutschlands bezeichnet. In | |
allen Nachrufen sämtlicher Sprachen wird darauf hingewiesen, wie wichtig | |
Günter Grass und sein Roman „Die Blechtrommel“ für den Wiederaufbau des | |
deutschen Selbstwertgefühls waren. | |
Romane sind Forschungsprojekte. Günter Grass musste aus der Arbeit am Roman | |
„Die Blechtrommel“ viel gewusst haben, und die Möglichkeit, dieses Wissen | |
in die Politik einzubringen, war sicher einer der glücklicheren Augenblicke | |
zwischen Literatur und Politik. Zwischen Geist und Politik. Zwischen | |
Theorie und Politik. Und sicher gab es da das Begehren, die politische | |
Revolution zur sozialen Revolution weiterzutreiben. | |
## Keine Erinnerung an sich selbst | |
Aber dann blieb es doch bei Deutschland und allem, was mit diesem Wort | |
mitgedacht werden muss. Und. Erinnern wir uns, dass die Hauptfigur des | |
Forschungsprojekts „Die Blechtrommel“ sich aus der Zeit herausstiehlt und | |
ewig dreijährig keine Erinnerung an sich selbst behalten muss. | |
Erinnerungslos in den Fortgang der Zeit gebunden, lassen sich die | |
Ungeheuerlichkeiten überleben, die der magische Realismus von Günter Grass | |
aufruft. Und Ungeheuerlichkeiten. Das waren die Erbschaften. Und ja auch | |
weiterhin. Wie mag das gewesen sein. | |
Damals. Sehr viel ältere Freunde schüttelten unlängst beim Abendessen den | |
Kopf. Das wäre alles normal gewesen. 1945. Das Weiter. Man könne sich nicht | |
selbst in der Geschichte sehen. Jedenfalls nicht, wenn es ums Überleben | |
ginge. Und. Wenn sich fast alle neue Lebensläufe ausdenken, dann macht man | |
das auch so. Und wenn dann im Lauf der Zeit die Politik so wichtig wird, | |
dann kann man den eigenen Lebenslauf auch als unwichtig einstufen. Und wenn | |
dann die Sprechmacht da ist, dann muss die bewahrt werden. | |
In den Diskussionen. Die einen finden, das Verschweigen der | |
SS-Zugehörigkeit setze alle Wirkung des Werks außer Kraft. Andere finden | |
das nicht so schlimm. Günter Grass selbst aber wusste es immer. Es wird zu | |
untersuchen sein, was dieses Wissen bedeutet hat und welche Formen der | |
Erpressung ein solches Verschweigen in ein Werk trägt. | |
## Halbgötter der Kultur | |
Damals aber. In der Öffentlichkeit der 60er und 70er Jahre. Weil Wissen und | |
Macht in der Politik nie zusammenfallen, musste eine Entscheidung fallen. | |
Und da kam gerade das öffentlich-rechtliche Fernsehen auf, und dort konnte | |
der Kampf um die Sprechmacht noch intensiver geführt werden. Im | |
öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurden die Titanen der Politik und der | |
Kultur gezimmert. Damals. In den 60er und 70er Jahren konnte es noch | |
eindeutige Halbgötter der Kultur geben. Und seien wir ehrlich. Es war | |
sicher lustig, sich Pfeife rauchend hinzusetzen und seine Meinung kundtun. | |
Verführerisch muss das gewesen sein. Hauptabendnachrichten und | |
Politmagazine, die alle anschauen mussten, weil es kein anderes Programm | |
gab. | |
Und Meinung. Günter Grass hatte zu allem eine Meinung und sagte sie. Aber. | |
Die soziale Revolution war da schon nicht mehr so wichtig. Und dem, was | |
Günter Grass im Roman „Der Butt“ anmahnte, nämlich die Fehler der Männer | |
nicht zu wiederholen und das dann Frauenbewegung zu nennen, diesem Defizit | |
blieb er selber immer treu. | |
Das finden wir auch im Gedicht „Europas Schande“ wieder. Es ist eine | |
Sehnsucht nach humanistischer Ordnung in der Manier eines Philhellenismus, | |
die sich da ausdrückt. Und. Eine solche Ordnung ordnet auch die | |
Geschlechterrollen. Antigone ist passiv. Sie trauert und kleidet sich in | |
Schwarz. Sokrates ist da aktiver. Er wird zornig und gibt den | |
Schierlingsbecher zurück. Auf dem Olymp gibt es nur Götter, die enteignet | |
werden können, aber wir dürfen sicherlich die Göttinnen als mitgemeint | |
mitdenken. | |
## Keine Frau neben Grass | |
Und das war es dann. Mitgemeint. Die soziale Revolution sollte nie | |
Geschlechtergerechtigkeit meinen. Da war schon die Sozialdemokratie davor. | |
Nie stand eine Frau gleichberechtigt neben Personen wie Grass. Nie wurde | |
uns gezeigt, wie das aussähe. Ernstgenommen. Würdig. Das ging wohl nicht. | |
Das Selbstverständnis auch einer Person wie Günter Grass mochte sich das | |
nicht vorstellen können. Nicht gleichberechtigt. Nicht so würdig. Und auch | |
wenn dieser Kampf in der Geschichte versunken ist und längst andere | |
Strukturen die Wirklichkeiten prägen. Der Primat des wirtschaftlichen Wohls | |
vor dem sozialen wurde damals auch gegen die Frauenbewegung ausgerufen. | |
Wenn die soziale Gerechtigkeit am Ende doch parteiisch gedacht war. Die | |
Moral zerbricht an so einem Widerspruch. Das kam wohl auch daher, dass | |
diese Generation von kritischen Söhnen sich auf einem Olymp der Moralität | |
wähnten und dort bleiben wollten. Aber ungestört. Statt also den Olymp zu | |
demokratisieren, wurde die deutsche Kultur zu einem der vielen old boys | |
clubs, wie sie die Welt immer schon beherrschten. Solche Personen haben | |
viel verändert und am Ende dann wieder gar nicht so viel. | |
17 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Marlene Streeruwitz | |
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