| # taz.de -- Literaturtagung in Berlin: Das Linke am linken Buch | |
| > Soziologe Ingar Solty und Schriftsteller Enno Stahl laden ins Berliner | |
| > Brecht-Haus. Sie wollen über das Schreiben im Kapitalismus diskutieren. | |
| Bild: In Zeiten des Kapitalismus: Was kann linke Literatur heute noch leisten? | |
| BERLIN taz | Ganz hinten an der Wand prangte ein überlebensgroßer | |
| Wollmantel auf allen vieren, eine Installation der Künstlerin Elke Graalfs, | |
| bei der man, je länger man auf sie schaute, desto weniger wusste, ob die | |
| Geste nun unterwürfig, ehrfurchtsvoll oder auch selbstbewusst wirkt. Und in | |
| dem Raum des Berliner Literaturforums im Brecht-Haus saßen zwei Dutzend | |
| Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Soziologen und | |
| Kulturwissenschaftler, um über Literatur und Kapitalismus zu diskutieren. | |
| Das war das Symposium „Richtige Literatur im Falschen?“, das der Soziologe | |
| Ingar Solty und der Schriftsteller und Journalist Enno Stahl konzipiert | |
| hatten. Von außen, durch die große Glasscheibe des Brechtforums gesehen, | |
| sah das sicherlich ganz kuschelig aus, aber auch etwas musterschülerhaft. | |
| Wie ein Uniseminar zum Thema „Literatur und politische Relevanz“. | |
| Es ist schon eine Reihe von Modellen ausprobiert worden, wie man unter | |
| Schriftstellern, Kritikern und Geisteswissenschaftlern ins Sprechen kommen | |
| kann. Legendär die Gruppe 47: Anhand von vorgelesenen Texten wurde heftig | |
| diskutiert, was mal zu Hahnenkämpfen der berühmten Kritiker führte, in den | |
| Sternstunden aber auch zum eindringlichen Ringen darüber, wie Literatur zu | |
| schreiben sei. | |
| Anfang der nuller Jahre hat es, angeregt durch den Schriftsteller Matthias | |
| Politycki, auch einen ganz anderen Ansatz gegeben. Auf Schloss Elmau saß | |
| man da unter Schriftstellern und Kritikern an einem langen Tisch zusammen, | |
| jeder Teilnehmer hatte fünf Minuten Zeit für ein Statement, die Statements | |
| wurden gesammelt, dann wurde darüber diskutiert. Das hatte den Nachteil | |
| einer gewissen Disparatheit, aber den Vorteil der Offenheit. Im Sprechen | |
| und Diskutieren konnten sich aus den vielfältigen Ansätzen geteilte Themen | |
| und Kontroversen entwickeln. | |
| Bei der Veranstaltung jetzt im Berliner Brecht-Forum wählten Ingar Solty | |
| und Enno Stahl noch ein anderes Modell: das einer wissenschaftlichen | |
| Fachtagung. Wie auf einem ordentlichen Kongress gab es Sektionen. Sektion | |
| 1: „Gegenwartsdiagnose: In was für einer Welt leben wir eigentlich?“, | |
| Sektion 2: „Ästhetikdebatten revisited: Die Literatur in der | |
| kapitalistischen Gesellschaft“ und so weiter. Inputreferate eröffneten die | |
| einzelnen Sektionen, dann wurde diskutiert und sich ausgetauscht. An den | |
| beiden Abenden gab es dazu jeweils eine Podiumsdiskussion und Lesungen. | |
| ## Vor- und Nachteile des Modells | |
| Auch ein solches Modell hat Vor- und Nachteile. Die Vorteile: Akademisch | |
| geprägte Menschen fühlen sich in so einem Umfeld offenbar ganz wohl. Und es | |
| war auch wirklich interessant, den Literaturwissenschaftler Helmut Peitsch | |
| über die Realismusdebatten in der alten Bundesrepublik referieren zu hören. | |
| Man konnte auch einiges mitschreiben, als der Kulturwissenschaftler Jan | |
| Loheit über die politischen Schriftstellergruppen in der Weimarer Republik | |
| vortrug. | |
| Und unter dem Signum der Kapitalismuskritik bekam man auch viele | |
| interessante Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammen. Kathrin Röggla, | |
| Norbert Niemann, Ann Cotten, Michael Wildenhain, Norbert Niemann, Thomas | |
| Meinecke, Monika Rinck, Raul Zelik, Ingo Schulze, Annett Gröschner waren | |
| darunter. | |
| Der Nachteil aber wog schwer: Es war in diesem Korsett offenbar nicht | |
| leicht, miteinander ins Sprechen zu kommen. Im Grunde wurde während der | |
| beiden Tage die ganze Zeit über erst nach Möglichkeiten gesucht, wie das | |
| gelingen könnte. | |
| Der von den Veranstaltern vorgegebene abstrakte gedankliche Rahmen | |
| erschwerte das zusätzlich. Offenbar hatte ihnen vorgeschwebt, durch eine | |
| linke Gesellschafts- und Literaturbetriebsanalyse einen objektiven Boden | |
| bereiten zu können. Darauf eine Art Koalition der emanzipativen Ansätze | |
| gegen den Mainstream zu bilden war der Hintergedanke. Was aber zur Folge | |
| hatte, dass die Kontroversen innerhalb der Gruppe – und davon gab es einige | |
| spannende – oft nur kurz aufblitzten. | |
| ## Kunst der differenzierten Beschreibung | |
| Jedenfalls bekam man als Beobachter den Eindruck, dass es sehr produktiv | |
| hätte werden können, die Kontroversen direkt anzugehen, anstatt bei der | |
| Konzeption auf die Herausbildung linker Konsense zu setzen. So zeichnete | |
| Ingar Solty in seinem Inputreferat ein geschlossenes globales Szenario: Ob | |
| Banken, Jugendliche in Spanien und Griechenland, der „Feuerring von | |
| Kriegen“ rund um Europa oder die Steigerung der Ungleichheit in Deutschland | |
| – überall Krisen, und immer ist „der“ Kapitalismus schuld. Für die | |
| Literatur kam für ihn da nur die Aufgabe zu, reflektiert „J’accuse“ zu | |
| sagen und mögliche Utopien kollektiver Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. | |
| Nun ja. Während der zwei Tage fiel mehrmals der hellsichtige Gedanke, dass | |
| gute Literatur auch darin besteht, möglichst differenzierte Beschreibungen | |
| zu liefern. Das wurde als Argument gegen den angeblich herrschenden | |
| Mainstreamrealismus gebraucht. Wäre doch aber vielleicht produktiv gewesen, | |
| diesen Gedanken auch auf solche schnell flutschenden Globalanalysen wie | |
| dieses Inputreferat zu beziehen. Die gegenwärtige Weltlage als Ganzes | |
| führte Solty auf die Begriffe „Ausbeutung“ und „Entfremdung“ zurück. | |
| Damit aber kann man gewiss Aktionismus munitionieren, aber doch keine | |
| differenzierten Beschreibungen auf Höhe der jeweiligen konkreten | |
| Problemlagen liefern. Herauszuarbeiten, an welchen Punkten linke Literatur | |
| sich hüten muss vor vorschnellen linken Abstraktionen, wäre großartig | |
| gewesen. Tatsächlich ist das Feld der Literatur nicht der richtige Ort, um | |
| politische Zentralperspektiven einzuziehen. Im Zweifel sollte sie immer bei | |
| den gesellschaftlichen Ambivalenzen bleiben. | |
| ## Die ewige Form-Inhalt-Debatte | |
| Eine ausdrückliche Kontroverse blitzte während der Podiumsdiskussion am | |
| Freitag zwischen Ingo Schulze und Michael Wildenhain auf. Wildenhain | |
| meinte, dass, bei aller Wichtigkeit der literarischen Form, das Linke von | |
| linker Literatur letztlich im Stoff zu suchen sei. Schulze widersprach. Das | |
| Politische von Literatur liegt für ihn darin, wie in der Literatur etwas | |
| gesehen wird. Wenn es Literatur gelinge, Gegebenheiten als neu zu zeigen | |
| und als keineswegs selbstverständlich, dann ist für ihn „das Politische da | |
| mit drin“. Auch dies eine Kontroverse, die immer neu diskutiert werden | |
| muss. Mag sein, dass solche Form-Inhalt-Debatten schon oft geführt worden | |
| sind. Aber es hilft ja nichts. Jede Autorengeneration muss sich in ihnen | |
| neu verorten. | |
| Keine direkte Kontroverse, aber sich interessant widersprechende | |
| Perspektiven entwickelten sich zwischen Norbert Niemann und Thomas | |
| Meinecke. In der deutschen Literaturlandschaft registrierte Niemann nur | |
| Mainstream und Verfall: überall „kommerzieller Realismus“ und Ausgrenzung | |
| komplexer Literaturansätze durch Medien und Feuilleton. Thomas Meinecke | |
| warnte dagegen davor, in kulturkritische Perspektiven zu verfallen: „Die | |
| Hoffnung liegt vielleicht ganz woanders, als man selbst das denkt.“ Als | |
| Beobachter war man dankbar für diesen Satz. Anstatt einen angeblichen | |
| Mainstream als Popanzgegner aufzubauen, ist es manchmal hilfreich, kritisch | |
| auch gegenüber den eigenen angeblich kritischen Perspektiven zu sein. | |
| Auch was die mögliche Wirkung von Literatur angeht, blitzte eine | |
| interessante Kontroverse auf. Erasmus Schöfer, in den Siebzigern Sprecher | |
| des „Werkkreises Literatur der Arbeitswelt“, zeigte sich desillusioniert: | |
| Die Macht des Kapitals verhindere die Wirksamkeit der engagierten | |
| Literatur, auf eine Veränderung der Gesellschaft hinzuarbeiten. Gegen diese | |
| Bild widersprach Kathrin Röggla: Die mögliche Wirkung von Ästhetik liege | |
| darin, Fragen aufzuwerfen, zuzuspitzen und nicht in der Anleitung zum | |
| Handeln. | |
| Was bekommt man also in den Blick, wenn man, wie auf diesem Symposium, | |
| Literatur und Gesellschaftskritik aufeinander bezieht? Einen objektiven | |
| Boden? Nein. Kollektive Handlungsmöglichkeiten? Auch nicht – außer der, | |
| immer weiter zu diskutieren. Aber dafür eine Reihe interessanter | |
| Kontroversen innerhalb der eingeladenen Ansätze. Auch das ist ein Ergebnis. | |
| 20 Apr 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Dirk Knipphals | |
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