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# taz.de -- Poetry Slam ohne Klamotten: Nackte Jungs lesen
> Nach Londoner Vorbild ziehen sich in Berlin Poetry Slammer aus, um ihre
> Texte vorzutragen. Mit Travestie-Unterstützung.
Bild: Der Rest sei der Fantasie überlassen.
BERLIN taz | Es muss ein Traum sein. Leuchtende Mosaike ejakulierender
Penisse zieren die Wände. Discokugeln in verschiedensten Größen glitzern
von der Decke. Spiegel vervielfältigen den dunklen Raum ins Endlose.
Und Carlos Maria Romero steht nackt auf einem Podest, drei Stufen über
einer amorphen Zuschauermasse, die auf seine ersten Worte wartet. Ein dicht
vor seinem Kopf angebrachter Scheinwerfer strahlt auf seinen Körper,
verleiht seinen Augen einen feuchten Glanz. Zuerst regt sich sein
Schnurrbart, dann folgt der Rest seines Mundes: „Ich werde aus ’Die Nöte
des wahren Polizisten‘ von Roberto Bolaño vorlesen.“ Große Literatur.
Eine Stunde haben Hunderte Berliner vor der Monster Ronson’s Ichiban
Karaoke Bar angestanden, um schmächtigen Männern beim unbekleideten
Vorlesen zuzusehen. Für Berlin ist es eine Premiere, in London gibt es die
Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Naked Boys Reading“ bereits seit 2012.
Auch Carlos Romero ist dort schon aufgetreten. Mal wird „Cinderella“
vorgetragen, mal aus den Arbeiten Freuds gelesen, immer von Amateuren.
## „By literature I mean cocks“
Gegründet und exportiert wurde „Naked Boys Reading“ von der Amerikanerin
Dr. Sharon Husbands. Eine blonde Drag-Amazone mit Bart und Brustbehaarung,
die selbst ohne ihre glitzernden High Heels einen Großteil der Gäste
überragen würde. Die Wimpern sind falsch. Der Doktortitel ist echt. An der
Lincoln University in London doziert Husbands – bürgerlicher Name: R.
Justin Hunt – über Queerness. Moderiert und gelesen wird an diesem Abend
hauptsächlich auf Englisch.
„We’re here to appreciate literature“, heißt es von ihr zu Beginn der
Veranstaltung. Unter vorgehaltener Hand fügt sie hinzu: „And by literature
I mean cocks.“ Husbands zur Seite steht Pansy Parker. Eine Berliner Größe
in der Drag- und Travestieszene: Marilyn-Monroe-Locken,
Lisa-Simpson-Perlenkette. Und unter ihrer seidenen Robe prangt ein nackter
Frauenkörper, es handelt sich um einen Ganzkörperanzug aus Gummi.
Auf dem Podest trägt Romero weiter aus dem Bolaño-Roman vor. Es geht um den
chilenischen Literaturprofessor Amalfitano, der nach dem Tod seiner Ehefrau
in eine Affäre mit seinem Studenten Padilla rutscht. Und es geht um die
Geschichte der Dichtkunst: „Walt Whitman, zum Beispiel, war ein schwuler
Dichter. Pablo Neruda war eine Dichterschwuchtel. Rubén Darío war eine
Tunte, eigentlich die Königin und der Inbegriff“, liest Romero vor. Eine
Flut aus Referenzen, die sogar Literaturstudenten überfordert. Doch das
Publikum feiert ihn. Genauso, wie es sich selbst feiert – jedes Mal, wenn
Romero Schwuchtel sagt oder Tunte oder Schwester oder Trine.
## Schwule, schwule Hipster
Nackt ist hier normal. In dieser Karaokebar in Berlin-Friedrichshain, wo
sich das Publikum vor allem aus Schwulen und schwulen Hipstern
zusammensetzt. Man sieht viele Bärte. Stellt man sich vor, die gleiche
Veranstaltung hätte mit bekleideten Performern stattgefunden – quasi wie
ein Poetry Slam, nur ohne Gewinner –, die Dynamik zwischen Publikum und
Bühne wäre eine komplett andere. Doch hier wird die Nacktheit aus dem
privaten in den öffentlichen Raum geholt; und sie wird belohnt – mit
Applaus und Anerkennung. Fast schon unabhängig von dem vorgelesenen Text.
Im Barbereich hält ein Mann in Hemd und Pullunder jedem, der seine
Aufmerksamkeit erregt, eine Tüte mit Süßigkeiten vor das Gesicht.
„Fin-ger-pup-pen“, liest er vor, jede Silbe einzeln betonend. Gewählt
werden darf zwischen Prinzessinnen, Rittern und Einhörnern – versehen mit
einem kleinen Weingummiring zum Anstecken. Wer zugreift, bekommt den
Ratschlag „vorher dehnen! Oder draufspucken“.
Ein Subkultur-Event. Ein bisschen David Bowie, ein bisschen Studio 54,
Stonewall und Romy Haag. Die Linie zwischen Ernst und Ironie verschwimmt.
Nach den Lesungen bewegt sich ein Mann in grünem Hasenkostüm durch die
Menge.
## In Sekundenschnelle nackt
Als Viertes tritt ein junger Dichter aus New York auf die Bühne, Ezra
Green. Er liest als Einziger eigene Texte vor. Das Publikum liebt ihn.
Feiert ihn, als stünde der nächste große Romancier vor ihnen. Obwohl
Gedichte, die einem feierwütigen Publikum vorgetragen werden, eigentlich
kaum zünden können, und seine Texte knapp an der Peinlichkeit
vorbeischrammen. Manchmal muss er über seine eigenen Werke lachen.
In einer der Pausen zwischen den Lesungen gibt es einen Wettbewerb. Zu
gewinnen gibt es zwei Bücher über Bärte. Pansy, die moderierende Dragqueen,
sucht im Publikum nach vier Freiwilligen. Drei Männer springen bereitwillig
auf die Bühne, eine junge Frau lässt sich von ihrem Begleiter überreden und
schlurft hinterher.
Pansy hat noch nicht ausgesprochen, wie gewonnen werden kann – da haben es
die Männer schon erraten, ziehen sich in Sekundenschnelle aus. Die Frau
bleibt peinlich berührt stehen. Die zwei schnellsten Nackedeis bekommen die
Bücher. Doch der dritte soll auf Wunsch von Pansy noch auf der Bühne
bleiben. Weil er nackt so gut aussieht.
## Peinliche Stille
Nacktheit ist an diesem Abend schnell nicht mehr außergewöhnlich. Für das
Publikum. Für die Performer schon, sie wirken oft unsicher, ringen mit sich
und ihrem Mut. Sie wirken verletzlich, fragil. Und gerade deshalb wird
ihnen Respekt entgegengebracht. Und mehr: Schlechte Witze werden gefeiert,
Stottern mit einem liebevollen Lachen abgetan.
Der Höhepunkt des Abends ist ein angekündigter Special Guest, der, wie sich
herausstellt, wiederum Dragqueen Pansy mit dem Frauen-Bodysuit sein wird.
Als er sich sein Kostüm auszieht, geht sein Konzept auf. Das Publikum ist
irritiert. Pansy, der nackt und biologisch ein ziemlich behaarter Mann mit
vielen Tattoos ist: „You’re confused, right?“, fragt er und lacht herzlic…
Er liest aus John Henry Mackays „Der Puppenjunge“ vor und schickt
Andeutungen voraus, dass sich der Roman mit Teilen seiner eigenen Biografie
deckt. Es geht um einen jungen Homosexuellen, der das Berlin der Goldenen
Zwanziger entdeckt und sich dabei prostituiert. „You know, because I, too,
am a sex worker!“ Es wird peinlich still im Raum. Pansy beeilt sich, das
Kapitel vorzulesen. In seiner Stimme schwingen viele Emotionen mit, dies
ist ein wichtiger Moment für ihn.
Er gibt zu, dass auch er hier das erste Mal nackt vor Publikum steht. Ein
Spiel mit Andeutungen und Missverständnissen, eine Performance. Pansy hat
sich niemals prostituiert, wie er später auf Nachfrage erklärt. Vielleicht
war auch seine Zerbrechlichkeit nur Inszenierung?
Authentizität wird zu einem unscharfen Begriff, wenn nackte Haut wie ein
Anzug abgelegt werden kann.
19 Apr 2015
## AUTOREN
Sarah Emminghaus
Markus Lücker
## TAGS
Dragqueen
Travestie
Berlin
Nacktheit
Homosexualität
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Kolumne Fernsicht
Freiheit
Kapitalismus
Hetero
Gefängnis
Sprache
Pop
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