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# taz.de -- Hommage an Rolf Dieter Brinkmann: Der Wortvandale
> Sehen, hören, riechen, tasten, schmecken, schreiben: Rolf Dieter
> Brinkmann war der erste deutsche Pop-Autor. Nun wäre er 75 Jahre alt
> geworden.
Bild: Rolf Dieter Brinkmann, 1969.
Mag sein, dass er bis heute das ist, was er zu Lebzeiten bereits war: Ein
Außenseiter. Ein Sonderling. Ein Eckensteher. Einer, der sich fatalistisch,
fast zwanghaft in eine solche Position katapultierte, würden die einen
sagen; einer, der unbedingt und mit Furor das literarische Schreiben im
deutschsprachigen Raum revolutionieren wollte und nicht anders konnte, als
zum Wortvandalen zu werden, die anderen. In jeder Verneigung vor ihm
steckte dabei auch ein wenig Abscheu. Und in jeder Verachtung auch ein
bisschen Bewunderung.
Rolf Dieter Brinkmann, der am 16. April 1940 im niedersächsischen Vechta
geboren wurde und am 23. April 1975 in London von einem Bus überfahren
wurde und starb, gilt den meisten noch heute als literarischer Provokateur,
dessen Schriften als Hasspamphlete auf die bundesrepublikanische
Gesellschaft gelesen werden und der durch seinen Habitus die
(bildungs-)bürgerliche Kultur zu schocken suchte.
Man sieht in ihm den ersten deutschen Pop-Autor: Brinkmann adaptierte die
literarischen Techniken der Beat Generation und die Sujets der
US-amerikanischen Popkultur in den späten Sechzigern für den
deutschsprachigen Raum – und entwickelte daraus seine Schreibhaltung. Will
man sich der Person, dem Dichter Rolf Dieter Brinkmann nähern, so trifft
man vielleicht zunächst auf ein „leibhaftiges Rätsel“, wie ihn einst ein
Kritiker nannte, oder auf ein „Ich, das quer liegt zur Welt“, wie Peter
Handke es sehr treffend beschrieb.
In jedem Fall hat man es mit einem unbequemen Autor, einem schwierigen
Menschen zu tun, der „nichts neben sich duldete“, wie der Schriftsteller
Dieter Wellershoff, ein früher Verleger und Weggefährte Brinkmanns, es
kürzlich in einem Telefongespräch ausdrückte. Aber, so sagte Wellershoff
eben auch: „Einer, der sehr viel Leidenschaft entwickeln konnte. Mit
Brinkmann kam eine neuer Ton in die deutschsprachige Literatur.“
## „Fuck You!“
Brinkmann, der nach seinem Aufwachsen in der norddeutschen Einöde eine
Buchhändlerlehre absolviert und während des Studiums an der Pädagogischen
Hochschule in Köln Anfang der Sechziger mit dem Schreiben beginnt,
veröffentlicht zunächst Gedichte und Erzählungen. Sein erster Roman,
„Keiner weiß mehr“, erscheint 1968.
Bis heute erscheint er den meisten als sperrig, kaum lesbar – inspiriert
ist er vom Nouveau Roman und dem wichtigsten Vertreter dieser Schule, dem
französischen Autor Alain Robbe-Grillet. Dieser Einfluss bleibt prägend. Es
geht Brinkmann um die dichte Beschreibung des Wahrgenommenen.
Die Lebendigkeit, das Alltagsnahe, das Experimentierfreudige sind, was ihn
am US-Underground der späten Beat Generation reizt. „Brinkmann ist total
drauf abgefahren“, sagt der damalige Buchhändler und Lektor Ralf-Rainer
Rygulla, mit dem Brinkmann die Anthologien „Fuck You!“ und „ACID“
herausgab. Beide Bücher erreichten Kultstatus – die Gedichte, Essays,
Comics und Interviews der US-amerikanischen Autoren, die von
psychedelischen Drogen, vom Rock ’n’ Roll, vom Masturbieren, Vögeln und
Eierschaukeln handelten, erschienen um 1968 und trafen einen Nerv.
„Alles konnte plötzlich Stoff für ein Gedicht sein“, sagt der heute
71-jährige Rygulla, den ich via Skype spreche, „vor allem erinnere ich mich
an diesen wunderbaren Frank O’Hara, der Gedichte über Zigaretten und
Kaffeetrinken geschrieben hat“. O’Hara und die damalige New York School
begeisterten auch Brinkmann: In „Westwärts 1 & 2“, seinem wohl bekanntestem
Gedichtband, ist der amerikanische Einfluss Programm. Er erschien wenige
Wochen nach seinem Tod und verkaufte sich schnell fünfstellig.
## „Sinnlich-unverfälschtes, 'dreckiges' Gesicht“
Dass er die in Amerika entstandenen Techniken, zu denen auch Cut-up
(William S. Burroughs) oder Spontaneous Prose (Jack Kerouac) gehörten, für
sein eigenes Schreiben lediglich übernahm, war eine oft vernommene Kritik.
Man wird Brinkmann aber nicht gerecht, wenn man ihn nur auf Pop- und
Beatnikimport, auf eine Poetik des Hasses und auf die Provokationen
innerhalb des Literaturbetriebs beschränkt – berühmt bleibt bis heute seine
Drohung bei einer Literaturveranstaltung gegenüber Marcel Reich-Ranicki im
Jahre 1968: „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt
über den Haufen schießen“, soll er gesagt haben.
Denn selbst Reich-Ranicki, obgleich er als Person von Brinkmann angewidert
war, sah eine besondere Qualität des Autors: „Er kann sehen und hören und
riechen und tasten und schmecken. Und das scheint mir – ich scherze
mitnichten – sehr viel zu sein, heute zumal.“
Brinkmann wollte die ungefilterte Wirklichkeit darstellen, einen
unvermittelten, ersten Eindruck der Dinge wiedererlangen und sprachlich
formulieren. „Der Versuch eines sinnlichen Realismus jenseits der
Allgemeinbegriffe“, wie der ehemalige taz-Musikredakteur und heutige
Zeit-Autor Thomas Groß es Anfang der Neunziger in seiner Dissertation über
Brinkmann schrieb. Dieser wolle das „sinnlich-unverfälschte, 'dreckige'
Gesicht“ der Welt zeigen.
In der genresprengenden Briefroman-Collage „Rom, Blicke“ ist das gut
nachzulesen – jedes Erleben, jede Regung, jedes Gefühl wird da als durch
Kulturindustrien, Gesellschaft und Medien bereits vorvermittelte(s)
dargestellt. „Rom, Blicke“, 1979 aus dem Nachlass erschienen, wurde als
Abgesang auf die Massenkultur, auf das tote „abendländische Bewußtsein“
(Brinkmann) und auf das alte Europa rezipiert. Der Band enthält Briefe und
Postkarten, die Brinkmann während seiner Zeit als Stipendiat in der Villa
Massimo in Rom an Freunde, Kollegen und seine Frau schreibt.
## Der Muff, die Enge
„Ist Dir schon mal aufgefallen, wie irrsinnig zerstückelt die Gegenwart
ist, wenn man einen Augenblick auseinandernimmt in seine einzelnen
Bestandteile und sie dann neu zusammenfügt?“, fragt er in einem Brief an
sie. Genauso las sich seine Literatur – er versuchte sie so assoziativ wie
die Wahrnehmung der Realität zu machen. Seine Sprache, oft endloser Stream
of Consciousness, wirkt daher fulminant, sorgt für anregende Überforderung.
In „Westwärts 1 & 2“ etwa stellt er das Nebeneinander der Eindrücke dar,
indem er die Gedichte mehrspaltig nebeneinandersetzt (später experimentiert
er mit Tonbändern, dem Super-8-Filmformat und Collagen).
Wollte Brinkmann den Literaturbetrieb aufmischen? „Die Zeit war jedenfalls
reif für Brinkmann“, sagt Ralf-Rainer Rygulla heute. „Schön zu schreiben
ist ja etwa heute wieder ganz aktuell, sowas hat uns natürlich nicht
interessiert. Als Reaktion auf die damalige Literatur hat Brinkmann sich
zeitweise bemüht, so kunstlos wie möglich zu schreiben“, sagt er.
Aber es sind mindestens in ebenso großem Maße die biografischen Prägungen,
die Brinkmann so „hässlich“ schreiben ließen. Mehr noch als Krieg und
Wiederaufbau klingt bei Brinkmann fast durchgängig das Aufwachsen in einer
kleinstädtischen, technokratischen, zutiefst biederen Umgebung durch. Der
Muff, die Enge spiegeln sich in den Beschreibungen seiner Wohnorte Vechta
und Köln, in den Schilderungen seiner Beziehungen und seines Familienlebens
wider.
Es ist etwas stets streng Durchreguliertes, etwas Gleichförmiges, das bei
ihm gleichsam physiologisch wird: „Das Leben in einer Stadt ist mit einer
irrwitzigen, derwischhaften Ordnung geregelt, bis in die Nervenzellen, bis
in den Stoffwechsel hinein“, schreibt er zum Beispiel in „Ein
unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten 1974/75“.
## Die mediale Verwertung des Augenblicks
Dazu kommt die Armut, in der Brinkmann mit Frau Maleen und dem Sohn Robert,
der eine geistige Behinderung hat, lebt. Brinkmann hat als schlecht
verdienender Autor eigentlich ständig Geldsorgen. Aber er hat alles andere
immer der Literatur untergeordnet. „Brinkmann als Person hat mich
fasziniert, ich kannte keinen vor und nach ihm, der sich ausschließlich und
einzig als Dichter verstanden hat“, so Ralf-Rainer Rygulla. „Er hatte ja
fast eine Art Schreibzwang, für ihn war Literatur gleichermaßen
Lebenskonzept und Lebensbewältigung.“
Rygullas persönliche Geschichte legt nahe, dass die literarische Revolution
nicht lange andauerte. Er zerwarf sich 1971 mit Brinkmann und
verabschiedete sich wenig später aus der Literaturszene: „Für mich war die
Sache dann gegessen.“ Man sei draußen gewesen, wenn man sich in der
Literatur der Siebziger nicht ideologisch und politisch positioniert hätte,
sagt der ehemalige Lektor des Rowohlt Verlags. „Und das war natürlich nicht
unser Ding.“
Die meiste Anerkennung für sein Gesamtwerk erhielt Brinkmann seit Mitte der
Achtziger von Seiten der Popkultur und Popkulturkritik. Heute ist Brinkmann
ein geschätzter Außenseiter in der Literatur, wird akademisch gern
behandelt, Schullektüre wird er wohl leider nie. Seine Kritiker bewerten
insbesondere die im Nachlass erschienen Materialsammlungen als Chaos, seine
Ästhetik als permanentes Scheitern am Stoff.
Dabei ist sein Gesamtwerk noch lange nicht erschlossen. Insbesondere
Biografisches und Teile seines Werks wird man erst bewerten können, wenn
Brinkmanns gesamte Materialien zugänglich sind, bestätigt Markus Fauser,
Leiter der Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann an der Universität Vechta.
Maleen Brinkmann sei noch im Besitz unveröffentlichter Arbeiten, für die
sie alle Rechte habe und die sie zum Teil zurückhalte, sagt er.
Brinkmann ist als Poet, dessen großes Thema Entfremdungserfahrungen, die
Wahrnehmung und das Bewusstsein waren, noch immer aktuell: Die
Mediatisierung ist vorangeschritten; die Erfahrungen sind noch weniger als
zu Brinkmanns Zeiten unmittelbare. Mehr noch: Die mediale Verwertung des
Augenblicks muss heute stets mitgedacht werden, erst das Selfie dient dazu,
uns unserer selbst zu versichern. Und auch sein Strampeln und Schlagen
„gegen die Subjektverdrängung“ (Handke), gegen die Verdinglichung und den
Verlust natürlicher Lebenswelten spiegelt stets aktuelle menschliche
Grundkonflikte oder fortlaufende Prozesse.
Am Donnerstag wäre der tolle Dichter Rolf Dieter Brinkmann 75 Jahre alt
geworden.
16 Apr 2015
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Schwerpunkt 1968
Pop-Literatur
Nachkriegsliteratur
Der Hausbesuch
Subkultur
Fernsehen
Theater
Kapitalismus
Marcel Reich-Ranicki
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