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# taz.de -- Essay Identitäten und Kontroversen: Wie mit Veränderungen umgehen?
> Revolutionär oder Moderator sein? Über zwei spektakuläre Sätze des
> baldigen Theaterintendanten der Berliner Volksbühne Chris Dercon.
Bild: Versuchslabor Berlin – welche Veränderungen sind gut, welche nicht?
Als es neulich um die Nachfolge von Frank Castorf an der Berliner
Volksbühne hoch herging, sagte Chris Dercon, der designierte Intendant,
etwas, das einem nachgehen kann. Und zwar sagte er im Interview mit dem
Tagesspiegel: „Revolutionäre bekommen oft Probleme mit Veränderungen. Ich
fühle mich nicht als Revolutionär, ich bin ein Moderator der Veränderung.“
Zwei schlichte Sätze – über die man einen Entwicklungsroman schreiben
könnte und vielleicht sogar sollte. Nicht nur, weil sie das Thema des
Umgangs mit Veränderungen ansprechen, das im Lebensweltlabor Berlin wichtig
ist, und nicht nur da. Sondern auch, weil man mit ihnen ein halbes
Jahrhundert Ideen- und Intellektuellengeschichte in den Blick bekommt.
Dass Revolutionäre Probleme mit Veränderungen bekommen können, ist von
Dercon zunächst auf Claus Peymann gemünzt, den Chef des Berliner Ensembles,
der sich öffentlich gegen Dercon positioniert hatte. Dieser erste der
beiden Sätze trifft etwas. Begonnen hat Peymann seine lange, lange Karriere
an der Berliner Schaubühne, als die sich tatsächlich – eine der
Gründungslegenden von Achtundsechzig – als revolutionäres Kollektiv im
Dienste der Arbeiterklasse verstand.
Und tatsächlich hat Peymann dann Probleme mit Veränderungen bekommen. Mit
denen innerhalb des Theaters – Postdramatik, Medieneinsatz, Performance,
über all das äußert er sich despektierlich – und auch mit denen rund um das
Theater herum. Politik, gesellschaftlichen Zusammenhalt, all das sieht er
einzig und allein im Niedergang.
## Aufbruch und Scheitern
Das Interessante an diesem ersten Satz ist aber erst, dass er weit über den
Theaterkontext hinausweist. Tatsächlich hat sich von Achtundsechzig aus,
sosehr es inzwischen historisiert und lebensweltlich verflüssigt worden
ist, das Schema, auf das Dercon anspielt, tief in die Gesellschaft
eingesenkt. Es ist das Schema von Aufbruch und Scheitern, das seit
Achtundsechzig von vielen Bewegungen immer wieder aufs Neue inszeniert
wurde. Ob Frauen-, Anti-AKW-, Öko- oder Schwulenbewegung, die These, dass
auf hoffnungsfrohe Anfänge ein Backlash gefolgt sei, findet sich schnell.
Rund um Achtundsechzig selbst war das Schema so wirkmächtig, dass
eigentlich bis zum Mauerfall 1989 sich auch viele Nachgeborene nur als
Zaungäste eines inzwischen versandeten gesellschaftlichen Aufbruchs
verstanden. The times, die in den Sechzigern noch auf der richtigen Seite
waren, they – so eine weit verbreitete Auffassung – are not a-changing any
more.
Dieses leicht manisch-depressive Schema von Aufbruch und Verfall leistet
einiges, vielleicht nicht gerade für differenzierte Analysen der Lage, aber
doch für Mobilisierungen. Es bietet klare Widerstandslinien und
Feindbilder, derer sich aktionistische Protestformen bedienen können: im
Prinzip gegen „die Mächtigen“, also irgendwie alle, die die angeblich
bleiernen Zeiten bestimmen. Mit dem möglichen Rekurs auf die Schönheit und
Wildheit der Anfänge bietet es zudem Motivationsschübe und Sinnaufladungen:
Kollektivitätserfahrungen bei Demos, „wir gegen die“, so etwas hilft gegen
Ohnmachtsgefühle. Und das Schema bietet noch etwas: eindeutige Identitäten.
Man lese noch einmal die Reportagen, die der Schriftsteller Cees Nooteboom
rund um die Pariser Mai-Unruhen des Jahres 1968 geschrieben hat (es gibt
sie in einem schönen Suhrkamp-Bändchen). Über die Tage, in denen die
Studenten tatsächlich von einer gelungenen Revolution träumen, schreibt
Nooteboom: „Es ist, als hätte jeder ein wundervolles Geschenk erhalten.“
Und ein paar Wochen später, als klar ist, dass der Aufstand gescheitert
ist, ändert sich in seinen Texten der Stil, der Tonfall, alles; nun
herrscht Desillusionierung und Langeweile. Aber egal ob Aufstand oder
Scheitern, auf beiden Seiten des Schemas ist der Erzähler dieser Reportagen
identisch mit sich selbst.
## Kontroversen im Denken und Sehen
In diesem Zusammenhang ist es nun interessant zu sehen, dass Chris Dercon
aus einem Feld kommt, das – im Unterschied zum Gros des deutschen Theaters
– mit klaren Identitäten nicht mehr viel anfangen kann: dem Feld der
aktuellen Kunst. Auf diesem Feld geht es ja gerade darum, Identitäten zu
befragen und vor allem aber den Verschiebungen und Kontroversen im Denken
und Sehen nachzugehen, die sich aus den vielfältigen Veränderungen ergeben,
von der Globalisierung bis zum Medienverhalten.
Die Kunst, das ist das Spielfeld wechselnder, sich überlagernder,
aufbrechender Identitäten; Aufbruch und Scheitern mag es dort auch geben,
aber wichtiger sind Experiment, Analyse, Komplexität, Ambivalenz.
Sowohl als Direktor des Münchner Hauses der Kunst wie derzeit noch als
Direktor der Londoner Tate Modern hat sich Chris Dercon gerade in der
Hinterfragung einer allzu eindeutig europäischen Identität eine Menge
Meriten erworben. Das Wissen darum, dass man schnell provinziell und
altbacken wirkt, wenn man sich gegenüber komplexen Veränderungen nur
ablehnend verhält, ist das kulturelle Kapital, das er dann in seinem
zweiten Satz kühl ausspielt.
Dieser zweite Satz hat es in sich. Schon klar, das Wort vom „Moderator der
Veränderung“ bezieht sich auch wieder zunächst auf den Theaterkontext.
Dercon empfiehlt sich als jemand, der das Stadttheater neu justieren
möchte. Zugleich weist es aber wieder weit über das Theater hinaus.
Er berührt auch die Frage, wie man intellektuell überhaupt mit
Veränderungen umgeht. Der Satz ist ein Credo. Dercon setzt mit ihm darauf,
bei den gegenwärtigen Veränderungen Differenzen herauszuarbeiten,
verschiedene Perspektiven wahrzunehmen und vor allem: Abstand zu wahren.
Anders als mit Abstand ist ein Moderatorenjob nicht zu machen.
Selbstverständlich geht es dabei keineswegs darum, Veränderungen
prinzipiell gut zu finden, sondern um Einzelfallprüfung, darum, sie jeweils
auf Vor- und Nachteile abzuklopfen.
## Kühle Beschreibungen
Vielleicht hat ja wirklich jemand Lust darauf, über all das ein Buch zu
schreiben – vielleicht ja auch ein erzähltes Sachbuch, so ähnlich wie
Philipp Felsch gerade in „Der lange Sommer der Theorie“ von den
intellektuellen Verschiebungen nach Achtundsechzig anhand des Merve Verlags
erzählt hat. Dieser Jemand wäre jedenfalls gut beraten, nun keineswegs die
simple Dramaturgie einer eindimensionalen Abfolge von Peymann zu Dercon zu
wählen. Interessanter und für das Bewusstsein unserer Gegenwart
aufschlussreicher sind die Dramen, die sich zwischen diesen Polen immer
noch abspielen.
Nur zwei Beispiele: In Philosophieseminaren haben sich, ich kann es
bezeugen, wahre Kämpfe zugetragen zwischen denjenigen, die etwa mit Hilfe
der Systemtheorie Anläufe unternahmen, die Komplexität der modernen
Gesellschaft überhaupt erst einmal zu beschreiben, und denen, die so kühle
Beschreibungen von vornherein als „affirmativ“ verleumdeten.
Außerdem sind viele Menschen geradezu Meister darin, auf der einen Seite
tatsächlich zu glauben, dass sie viele gesellschaftliche Veränderungen als
„neoliberal“ ablehnen, auf der anderen Seite aber die Freiheitsgewinne, die
mit ihnen verbunden sind, in der Praxis selbstverständlich einzustreichen.
Während man am Pol Peymann hier Entlastung durch ein allgemeines
Dagegensein sucht, wird ein guter Moderator der Veränderungen versuchen,
solche Ambivalenzen im Sinne von Selbstreflexion allgemein bewusst zu
machen.
Eindeutige Identitäten versus komplexe Einzelfallprüfung von Veränderungen:
Ein Buch, das dieses intellektuelle Drama beschreibt, wäre toll.
10 May 2015
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Theater
Claus Peymann
Frank Castorf
Chris Dercon
Berliner Volksbühne
Claus Peymann
Theater
Anti-AKW-Proteste
Intendant
Chris Dercon
Judentum
Schwerpunkt 1968
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