| # taz.de -- Micha Brumlik über den Mai 68 in Paris: Was nach dem Scheitern ble… | |
| > Goldman, Cohn-Bendit und Glucksmann. Wie jüdisch war der Pariser Mai | |
| > 1968? Und wie trauert man über eine gescheiterte Revolution? | |
| Bild: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre auf der Beerdigung von Pierre Gol… | |
| Dieser Text ist erstmals am 16.4.2015 in der taz erschienen. Wir haben ihn | |
| aus [1][Anlass des Todes von Micha Brumlik] erneut publiziert. | |
| Der vorläufig letzte Revolutionsversuch im Westen Europas scheiterte 1968 – | |
| in Paris. Mit diesem Scheitern verpufften die utopischen Energien im | |
| Westen; die friedlichen „Revolutionen“ Ost- und Mitteleuropas, die das | |
| sklerotische Sowjetsystem zu Fall brachten, waren anderer Art. Manche | |
| wollen derzeit im Kiewer „Euromaidan“ 2013/2014 eine versuchte Revolution, | |
| dem Pariser Mai vergleichbar, erkennen. Doch das ist derzeit noch | |
| umstritten und wird erst die Geschichte weisen. | |
| Dafür besteht jetzt die Chance, sich dessen, was der Pariser Mai war, zu | |
| versichern. Er war – so jedenfalls der Historiker Sebastian Voigt – | |
| „jüdisch“. Voigts Studie „Der jüdische Mai ’68. Pierre Goldman, Daniel | |
| Cohn-Bendit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich“ weist nach, dass | |
| die Protagonisten jener Revolte in einem nicht nur banalen Sinn Juden | |
| waren. Die in den 1930er und 1940er Jahren Geborenen stammten von | |
| kommunistischen Eltern ab, die den Nazismus in Untergrund oder Emigration | |
| überlebten. | |
| Sie unternahmen den Versuch, eine eigene, von den Gräueln des Stalinismus | |
| nicht befleckte linksradikale Perspektive wiederzubeleben. In ihnen und | |
| ihrer Eltern Leben kam zum Ausdruck, was Hannah Arendt in ihrem Buch | |
| „Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft“ als das Kennzeichen des 20. | |
| Jahrhunderts herausgestellt hat: die Gestalt der jeden Schutzes baren | |
| Staatenlosen. | |
| Tatsächlich solidarisierten sich die demonstrierenden Pariser Studenten mit | |
| dem an der Wiedereinreise nach Frankreich gehinderten Cohn-Bendit, indem | |
| sie riefen: „Wir sind alle deutsche Juden.“ Während sich Daniel Cohn-Bendit | |
| später zum klugen, das Maß politischen Handelns präzise einschätzenden | |
| Reformisten und André Glucksmann zum antitotalitären Philosophen wandelte, | |
| wurde Pierre Goldman, heute weitgehend vergessen, 1979 auf offener Straße | |
| erschossen. | |
| ## Im Untergrund geboren | |
| 1944 im französischen Untergrund geboren, publizierte er 1977 – nach | |
| lateinamerikanischen Guerrillaerfahrungen und einer Haftstrafe wegen eines | |
| ihm zu Unrecht zur Last gelegten Mordes – seine Aufsehen erregenden | |
| Memoiren „Dunkle Erinnerungen eines in Frankreich geborenen polnischen | |
| Juden“. | |
| Goldman, der, obwohl ein radikaler Linker, niemals zum | |
| antiimperialistischen Feind des Staates Israel wurde, erläuterte sein | |
| jüdisches Selbstverständnis in den späten 1970er Jahren so: „Meine einzige | |
| Art, mein Jüdischsein zu bekräftigen, war es, ein Paria zu werden. Ich bin | |
| im Geruch der Krematorien geboren. Meine ganze Jugend habe ich mir | |
| gewünscht, dieses Klima wiederzubeleben, die Atmosphäre des Warschauer | |
| Gettoaufstands wiederherzustellen und zugleich das Leiden und die Ehre | |
| kennenzulernen.“ | |
| Freilich deckt Voigts biografisch verdichtete Darstellung nicht die ganze | |
| Breite jener Revolte und ihres Scheiterns ab; die ebenfalls oft jüdischen | |
| Familien entstammenden Trotzkisten erwähnt er nur beiläufig, obwohl aus | |
| ihren Reihen die philosophisch anspruchsvollste Trauerarbeit über das | |
| gescheiterte Revolutionsprojekt vorgelegt wurde: Daniel Bensaids Essay | |
| „Walter Benjamin. Links des Möglichen“, der gleichfalls dieser Tage | |
| erschienen ist. | |
| 1946 als Sohn eines algerischen Juden in Toulouse geboren, seit früher | |
| Jugend Kommunist, Aktivist des Pariser Mai und der Vierten trotzkistischen | |
| Internationale, versuchte der 2010 verstorbene Professor der Philosophie | |
| dem weltgeschichtlichen Scheitern der kommunistischen Idee einen letzten | |
| Sinn abzugewinnen. In einer Rückkehr zu Walter Benjamins Messianismus sowie | |
| Ernst Blochs später Philosophie fand er schließlich das, was nach dem | |
| Scheitern bleibt: Hoffnung. | |
| ## Die Zukunft als beweglicher Horizont | |
| „Für die messianische Vernunft“, so Bensaids unter Schmerzen errungene | |
| resignative Einsicht, „ist die Zukunft nicht der unbewegliche Ort eines | |
| gelobten Landes, sondern der bewegliche Horizont, an dem sich die | |
| Möglichkeiten aktualisieren. Ihr Prinzip ist nicht die erschlaffte Hoffnung | |
| eines Trostes, sondern die auf der Lauer liegende Zuversicht des | |
| Vielleicht. Die Utopie findet sich wieder, nicht abgeschafft, sondern | |
| fragmentiert, endgültig losgerissen von den einigenden Ambitionen der | |
| großen, fertigen Systeme.“ | |
| Genauer als diese 2010 getroffene Diagnose lässt sich die Lage einer noch | |
| immer radikalen Linken im Zeitalter von Globalisierung, Neoliberalismus und | |
| Postdemokratie kaum beschreiben. | |
| 11 Nov 2025 | |
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