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# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Aktueller Revisionismus
> Die Zeit ethnischer Nationalstaaten ist längst nicht vorbei.
> Postkoloniale Theorien sollten in dieser Hinsicht wenigstens präzisiert
> werden.
Bild: Jerusalem: „Hier der Glaube an den Tempel Davids, dort die Überzeugung…
Womöglich beweisen die mörderischen Kriege im Nahen Osten sowie das
tödliche militärische Geplänkel im Osten der Ukraine, dass eine – zumal von
Linksliberalen gern geteilte – Überzeugung wieder zur Disposition zu
stellen ist. Seit mindestens fünfundzwanzig Jahren haben wir uns bei dem
Gedanken wohlgefühlt, dass die Zeit der ethnischen Nationalstaaten, die den
Menschen nicht nur Europas in zwei Weltkriegen millionenfachen Tod
brachten, vorbei und überwunden sei, dass zumal die Globalisierung ihre
Überwindung und Einschränkung geradezu erzwinge.
Inzwischen hatten wir allerdings durch historische Forschung, etwa die
Untersuchungen des Konstanzer Historikers Jürgen Osterhammel zu lernen,
dass es gerade die frühneuzeitliche Globalisierung war, die den ethnischen
Nationalstaat zumindest mit verursacht hat.
Zugleich war zur Kenntnis zu nehmen, dass zumal in den klassischen
Nationalstaaten, Frankreich und Großbritannien, jene politischen Kräfte,
die gegen ein postnationalstaatliches Gebilde wie die Europäische Union
sind, immer stärker werden; die vorerst glimpflich ausgegangenen
Sezessionsbewegungen in Katalonien und in Schottland bestätigen das nur.
Ein Blick in den Nahen (nah von wo eigentlich?) und „Mittleren“ Osten
wiederum scheint drastisch das Ende der aufgenötigten nationalstaatlichen
Hüllen zu beweisen: Während von „Libyern“, „Irakern“ oder gar „Syre…
ethnischen Nationen keine Rede mehr sein kann, sondern dort nur noch Stämme
oder Religionsgemeinschaften Träger der politischen Entwicklung sind,
erweisen sich die Völker der Juden und Palästinenser, neuerdings auch der
Kurden als stabil und geradezu staatstragend – im Guten wie im Schlechten.
Angesichts dessen hätte jenes Theorienangebot, das als „postkolonial“
bezeichnet wird, einige Revisionen oder wenigsten Präzisierungen
vorzunehmen.
## Der Kern des romantischen Nationalismus
Tatsächlich sind es im arabischen „Nahen“ Osten einzig die Palästinenser,
die eine mehr oder weniger abgeschlossene Ethnogenese hinter sich haben –
weil sie es als Einzige mit einem klassisch europäisch-romantischen
Staatsbildungsprojekt zu tun hatten: mit dem Zionismus! Der Zionismus, das
hat die Forschung inzwischen herausgearbeitet, war weniger ein rationales
Projekt zur Behebung der „Judenfrage“ denn eine vor allem von jüdischen
Intellektuellen der vorletzten Jahrhundertwende – vor allem Russlands –
adaptierte Form des romantischen Nationalismus, der lange vorher die
Bevölkerungen vor allem Österreichs-Ungarns erregte – nicht zuletzt die
Ruthenen, die heute als Ukrainer gelten.
Es war der erste Premierminister des Staates Israel, David Ben Gurion, der
das in unnachahmlich klarer Weise zum Ausdruck brachte: „Der Zionismus ist
nicht einfach eine philanthropische Bewegung.“
In Auseinandersetzung mit und im Widerstand gegen diese Form des romantisch
geprägten Siedlerkolonialismus entwickelten dann die vertriebenen und
verbliebenen Araber Palästinas allerspätestens seit 1947 ein eigenes
ethnisches Selbstverständnis, das sie womöglich als Letzte gegen eine
radikale Islamisierung immun sein lässt. Sicher ist auch das nicht: Die
aktuellen Auseinandersetzungen in Jerusalem um den Tempelberg beweisen,
dass der ethnische Nationalismus israelischer Juden und arabischer
Palästinenser nur zu bald die Form fundamentalistisch religiöser
Vergemeinschaftung annehmen könnte.
Als Kern des romantischen Nationalismus entpuppen sich dort religiöse
Narrative: hier der Glaube an den Tempel Davids, dort die Überzeugung, dass
der Prophet von Mekka auf seinem Pferd Burak nächtens nach Jerusalem
geritten sei. Religion als Kern des romantischen Nationalismus? Wächst hier
(wieder) zusammen, was zusammengehört?
11 Nov 2014
## AUTOREN
Micha Brumlik
## TAGS
Judentum
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Revisionismus
Naher Osten
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