# taz.de -- Der Hausbesuch: Vom Leben genährt | |
> Ausprobieren, was möglich ist – das hat die Schriftstellerin Ingeborg | |
> Middendorf immer getan. Sie blickt zurück auf viele Jahre voller Hingabe. | |
Bild: Ingeborg Middendorf in ihrer Wohnung | |
Orte und Zeiten verwischen in einem wilden Leben. Wie bei Ingeborg | |
Middendorf. | |
Draußen: Berlin-Friedenau – das Viertel heißt so, weil es dem Frieden | |
gewidmet wurde, nach dem Ende eines längst vergessenen Krieges. Friedenau | |
ist auch ein Dichterviertel. Hier haben Günter Grass, Uwe Johnson, Max | |
Frisch gelebt. Wie heute Herta Müller. Und Ingeborg Middendorf auch. | |
Drinnen: Sie wohnt im Hochparterre, drei Zimmer, Küche, Bad, zwei Balkone. | |
Die Einrichtung ist eine Mischung aus neu und antik, eine Heimstatt für | |
Poesie auf dem Apple und Musik auf dem jeden Tag bespielten Klavier. „Ich | |
bin ein nervöser Mensch, keiner, der sich irgendwo hinsetzen und schlafen | |
kann“, sagt Middendorf mit norddeutschem Tonfall. | |
Ankunft: 1972 kam sie mit ihrem Freund Henning Brockhaus nach Westberlin. | |
Zuvor hatte sie in Bonn und Göttingen studiert, Germanistik und | |
Philosophie, nach vier Semestern abgebrochen und dann in Köln 1967 die | |
erste Staatsprüfung als Lehrerin abgelegt. Abschlussarbeit war eine | |
Interpretation des „Zauberberg“ von Thomas Mann. 1978 dann, endlich, das | |
ersehnte Kind: Julian. | |
Hippie: In Köln traf sie im Germanistikseminar den Bürgerschreck [1][Rolf | |
Dieter Brinkmann] wieder, den bedeutendsten Dichter der BRD, den sie aus | |
ihrer Jugend in Vechta kannte. Der literarische Provokateur Brinkmann | |
verstörte mit seiner Radikalität und rüttelte auf. Eine aufregende Zeit | |
begann für Middendorf, [2][eine Hippie- und Bohemezeit], die auch ein Jahr | |
Drogenerfahrung einschloss. Schließlich dann doch Lehrerin, zweites | |
Staatsexamen, Verbeamtung auf Lebenszeit. Diese kündigt sie dann später | |
wieder und erlangt sie erst nach Jahren zurück – die Voraussetzung, | |
selbständig zu sein. | |
In Vechta: Wie sie sei, habe viel mit ihrer großbürgerlichen Herkunft zu | |
tun, sagt Middendorf. Geboren und aufgewachsen in einer Jugendstilvilla in | |
Vechta mit Park, Obstgarten, Wiese bis zum Tennisplatz, und mit Eltern, die | |
schwer traumatisiert waren. Der Vater, Großkaufmann, | |
NS-Kreiswirtschaftsleiter im Krieg und seine zarte Frau, die eigentlich | |
Nonne werden wollte. Über Krieg und Holocaust wurde nie gesprochen. „Wenn | |
ich heute in die Stadt komme, sehe ich überall die Stolpersteine.“ Nach dem | |
Krieg wird der Vater interniert und enteignet, schließlich entnazifiziert. | |
In die Villa zieht vorübergehend die britische Besatzungsmacht ein. Die | |
Mutter lebt mit ihren beiden Kindern im hergerichteten Hühnerstall im | |
Obstgarten. „Den hab ich geliebt, da hatte ich meine Mutter für mich | |
alleine. Eine glückliche Zeit trotz der kalten Winter, in denen wir die | |
Füße auf im Ofen aufgeheizte Ziegelsteine legten und Brotsuppe aßen.“ Dann | |
kommt der Vater wieder, er erhält seinen Besitz zurück, Bedrückung und | |
Schweigen ziehen ein in das große Haus. | |
Brinkmann: „Er war der Klassenkamerad meines ersten Freundes. Ich sah ihn | |
immer die große Straße runter laufen. Man spürte schon von Weitem seine | |
Aura.“ Als Middendorf 15 ist, führt eine Theatergruppe der Oberschulen in | |
Vechta das Stück von Wolfgang Borchert auf: „Draußen vor der Tür“. Rolf | |
spielt die Hauptrolle und schreit die Sätze in den Saal des | |
Metropoltheaters: „Warum schweigt ihr denn? Warum? Gibt denn keiner | |
Antwort? Gibt keiner Antwort??? Gibt denn keiner, keiner Antwort???“ – „U… | |
wir erstarrten. Unsere Frage, von der wir gar nicht wussten, dass wir sie | |
hatten.“ | |
Trauma: „Es lag eine tiefe Traurigkeit über der großen Villa. Ich hatte das | |
Gefühl, dass meine Eltern gar nicht richtig da sind. Ich wollte ihnen immer | |
Freude machen, vor allem meiner Mutter.“ Deswegen habe sie gemalt und | |
gebastelt, gesungen und Klavier gespielt. Aber lustig sei es nur mit dem | |
Dienstmädchen gewesen. Als sie Abitur macht, wird bei ihrem Vater Krebs | |
diagnostiziert. Ein Jahr später stirbt er, ihre Mutter bleibt allein. „Wir | |
Kinder waren aus dem Hause. Sie hat das Finanzielle aus der Hand gegeben | |
und sich betäubt. Nicht tagsüber, sondern nachts. Bei Besuchen hab ich ganz | |
oben im Mädchenzimmer geschlafen, um das nicht mitzukriegen.“ In dieser | |
Zeit überkommt Ingeborg Middendof eine schreckliche Lebensangst: „Ich kann | |
ja nichts! Ich hab Abitur, aber von nichts ’ne Ahnung! Ich weiß gar nicht, | |
wie man lebt, worum es überhaupt geht.“ Zum Glück habe die Mutter ihren Weg | |
in die Autonomie unterstützt, „dass ich studieren konnte, lernen“. Und | |
schreiben. | |
Schreiben: Ihren ersten Text schickt Ingeborg Middendorf als Schülerin im | |
katholischen Sacré-Coeur-Internat ans Hamburger Abendblatt. Sie bekommt | |
eine freundliche Antwort. Da stecke was drin, aber sie solle mal Proust | |
lesen und Brecht. Heute zögert sie auf die Frage, ob sie mit ihrer Karriere | |
als Schriftstellerin zufrieden ist. „Ich hätte nie jemand sein können, der | |
alle zwei Jahre ein neues Buch herausbringt.“ Im Klappentext des [3][ersten | |
Gedichtbandes] von 1978 schreibt sie: „Die Erfahrung von Trennung durch | |
Bruch oder Tod – der Gedanke an Vergeblichkeit und Einsamkeit des Lebens | |
haben mich immer wieder in die Panik des Nichts gestoßen. Mein Schreiben | |
ist der Versuch, dieser Panik zu entkommen. Darum geht es mir, nicht um die | |
finanzielle Existenz.“ | |
Geld: „Es ist ja nicht so, dass ich arm bin. Aber ich wusste nie, was mein | |
Vater besitzt, das sollte ich auch nicht wissen.“ So wie ihre Mutter sei | |
Middendorf in Unkenntnis gehalten worden. Als dann der Patriarch nicht mehr | |
da war, sei sehr viel über den Deister gegangen – eine hannoversche | |
Redewendung für verschwinden. „Ich bin jedenfalls die Einzige in der | |
Familie, die zur Miete wohnt. Zu Hause bin ich nicht mit Geld in Berührung | |
gekommen. Es war alles da, wurde alles gemacht. Die Realität fehlte.“ | |
Körper: Middendorf kommt aus einem katholischen Elternhaus, ging auf eine | |
Nonnenschule. „Körper war da etwas Böses, was man verstecken musste, etwas | |
Gefährliches – gefallene Mädchen. Sexualität gab es nicht, außer in einer | |
Ehe und dann auch nur zum Kinderkriegen. Aufklärung null.“ Mit den | |
1960er-Jahren sei endlich Luft an die Haut und in den Kopf gekommen: Free | |
your ass, your mind will follow! Make love – not war! „Die Hippiebewegung | |
war schön und ich war mittendrin. Mich hat das angezogen, was sich lebendig | |
anfühlte.“ Sie lernt Männer kennen, einige werden später berühmt: in | |
Göttingen Burkhard Driest; in Berlin Hanns Zischler, der auch Julians Vater | |
ist; Jörg Fauser. „Vielleicht war ich eine Weile eine Art It-Girl.“ Sie | |
habe, meint Middendorf, sich Männer gesucht, die ihrem Vater glichen: | |
leistungsstark, geheimnisvoll, verhalten in ihren Gefühlen. „Das ist für | |
eine Frau nicht erfüllend und bringt sie in Bedrängnis. Man kann von diesen | |
Männern auch lernen, aber das Herz hungert.“ | |
Hingabe: Geld verdient sie damals auch als Aktmodel. „Sonst lebte man von | |
Luft und Liebe. Ich habe mich in Uli Karp, einen attraktiven Fixer verliebt | |
und ein Jahr lang Hingabe gelebt.“ Die Trennung ist unausweichlich. Später | |
seien Drogen nie mehr ein Thema gewesen. „Ich bin Asketin.“ In Berlin habe | |
sie Jahrzehnte später die Tantriker kennengelernt, Workshops besucht und | |
sich zur Masseurin ausbilden lassen. „Berührung jenseits von Druck.“ Eine | |
wirklich starke körperliche Erfahrung aber sei die Schwangerschaft und | |
Geburt gewesen: „totale Hingabe“. | |
Julian: „Luisa hatte nur einmal in ihrem Erwachsenenleben aus vollem Herzen | |
Ja gesagt. Das war vor dreißig Jahren, als sie schwanger war und den | |
kräftigen Herzton ihres Kindes in der Arztpraxis gehört hatte. Da hatte sie | |
JA gesagt zu dem werdenden Kind.“ So schreibt Ingeborg Middendorf in dem | |
Buch: „Der Schatten seines Lächelns“. Luisa, das ist sie. Julian stirbt | |
2013 an Krebs. Er ist der wichtigste Mensch in ihrem Leben, das größte | |
Geschenk und der tiefste Schmerz. 2020 schreibt sie ein Buch über sein | |
Leben. „Im Schreiben war er da, ich konnte seine Nähe spüren, seine Stimme | |
hören, sein Lachen. Ich konnte die Bilder in mir ordnen, seinem Weg | |
nachspüren und seinem Leben die Schönheit geben, die es trotz allem gehabt | |
hatte.“ | |
Was kommt: „Aber tot bin ich nicht“ heißt ihr neuer Gedichtband, der Ende | |
2024 erschien, eine Art Werkschau und ein Versprechen. „Nach einer üppigen | |
Mahlzeit kommt das Dessert.“ Einige Menschen werden nicht mehr dabei sein, | |
bei dem Fest, und Ingeborg Middendorf ist jetzt eine ältere Dame. Und eine | |
Dichterin. | |
11 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Hommage-an-Rolf-Dieter-Brinkmann/!5012498 | |
[2] /Zeitgeist-Plus/!5189436 | |
[3] /Ingeborg-Bachmann-Gesamtausgabe/!5388446 | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
## TAGS | |
Der Hausbesuch | |
Hausbesuch | |
Poetik | |
Schriftsteller | |
Nachkriegsliteratur | |
wochentaz | |
wochentaz | |
wochentaz | |
Schwerpunkt 1968 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Hörspiel-Klassiker im Brinkmannjahr: „Köln ist die schmierigste Stadt, die … | |
Rolf Dieter Brinkmanns Hörspiel „Die Wörter sind böse“ ist ein Klassiker | |
der Radikalität. Und ein Monument des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. | |
Der Hausbesuch: Den Schrecken in Verse packen | |
Der britische Ex-Offizier David Conlin war auf Zypern im Einsatz, später | |
arbeitete er im Alliiertengefängnis in Berlin. Heute ist der 82-Jährige | |
Vogelschützer und Poet. | |
Der Hausbesuch: Tätig sein, leben | |
Er war 30 Jahre lang Verleger, inzwischen ist Edmund Budrich 92 und | |
arbeitet immer noch. Ein Besuch in Leverkusen. | |
Der Hausbesuch: Der Wahrheit auf der Spur | |
Wolfgang Schorlaus Kriminalromane sind immer politisch – und genau | |
recherchiert. Für sein neues Buch hat er auch mit Windkraftgegnern | |
gesprochen. | |
Hommage an Rolf Dieter Brinkmann: Der Wortvandale | |
Sehen, hören, riechen, tasten, schmecken, schreiben: Rolf Dieter Brinkmann | |
war der erste deutsche Pop-Autor. Nun wäre er 75 Jahre alt geworden. |