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# taz.de -- Zeitgeist Plus: Mehr Sex, Selbst & Drogen
> Anspruch einer umstürzlerischen Zeit und ihre Nachwirkungen bis heute:
> Was sich an Lebensstilen mit dem Jahr 1968 änderte.
Bild: Hippies im Jahr 2007 - hier beim Burg Herzberg Festival. Irgendwas bleibt…
A) Sex & Körper
1. Die Idee. Wer viel Sex hat, ist revolutionär und heldenhaft. Zu dieser
Idee gehört auch das Bild der halbnackten Uschi Obermeier mit ebenso
langhaarigen, nackten und blassen Männern. Die Einführung der Pille in den
frühen Sechzigern hatte die pharmazeutische Grundlage für die Freizügigkeit
geliefert; die Angst vor ungewollter Schwangerschaft und "Mussehe" waren
verschwunden.
Ideologische Stütze erhielten junge Männer, die viel Sex haben wollten,
durch die Wiederauflage der Schriften Wilhelm Reichs im Jahre 1970, die
viel Sex inklusive Orgasmus zu einer Therapie gegen bürgerliche
Verklemmtheit hochjubelten. Frauen, bei denen beim Geschlechtsverkehr der
vaginale Höhepunkt auf sich warten ließ, bekamen 1975 Hilfe durch Alice
Schwarzer und ihr Werk "Der kleine Unterschied". Darin weist die spätere
Starfeministin darauf hin, dass sich jeder Orgasmus der Frau letztlich auf
die Klitoris zurückführen ließ. Fortan mussten sich die Männer mehr Mühe
geben.
2. Die größte Errungenschaft
Viel Sex mit wechselnden PartnerInnen ist okay, wenn man will.
3. Der größte Irrtum
Dass viel Vögeln automatisch viel Glück bedeutet. Es gibt keinen einzigen
empirischen Beweis für diese These. Auch falsch: Dass sich Sexuelles frei
von Machtbeziehungen gestalten lässt. Und dass die Eifersucht verschwindet,
wenn man nur lange genug darüber redet.
4. Und heute?
Als Spätfolgen der sexuellen Revolution entwickelten sich ein gnadenloser
Körperchauvinismus und Verjüngungszwang. Dass mit der sexuellen Freiheit
neue Unfreiheiten entstehen, hat der französische Autor Michel Houellebecq
in seinem Bestseller "Ausweitung der Kampfzone" (auf Deutsch im Jahre 2000
erschienen) beschrieben. Wer sich schwertut, viele Sexpartner zu finden,
gilt demnach als Loser.
Aber Teenager von heute verweigern sich dem Druck: Scham ist wieder okay.
Junge Leute ziehen sich in romantisch geschützte Zweierbeziehungen zurück
und geben in Umfragen an, wie wichtig die Treue ihnen doch sei. Die Alten
wiederum, stolz auf ihre sexuelle Biografie, können das Absinken des
eigenen Hormonspiegels nur schwer akzeptieren. Manche greifen zu Viagra.
Viele Singles haben aber keine Lust mehr auf die bange Frage: "Bin ich noch
schön genug für den Partnerschaftsmarkt?" Die Zeit ist gekommen für eine
neue Revolution des Sexuellen.
B) Klamotten
1. Die Idee. Wer sich gebrauchte Armeeklamotten oder wallende Hippiekleider
anzieht, zeigt sich frei von bürgerlichem Statusdenken und beweist
Sinnlichkeit. Nur Loser und Klemmis tragen Anzug, knielange Röcke und
dunkel umrandete Krankenkassenbrille.
Die Klamottenrevolte, die Ende der Sechziger begann, hatte tatsächlich
etwas Demokratisches: Die Stücke waren billig, weil oft second-hand oder
selbst gemacht. Im Armylook trug man gebrauchte Bundeswehrparkas und
US-Armeejacken, dazu Jeans und Armee- oder Wildlederstiefel, mitunter mit
hässlichen Fransen verziert. Der Stil wurde zu einer Art Berufskleidung für
Vieldemonstranten.
Fast zeitgleich verbreitete sich der Hippielook mit selbst gebatikten
bunten Röcken, flattrigen indischen Hemden und muffeligen Schaffelljacken.
Die Hippietextilien vermittelten ein Flair von Fernostreisen und wärmeren
Temperaturen. Damit waren die schlechten Schnitte fürs Erste entschuldigt.
2. Die größte Errungenschaft
Dass Frauen heute die gleichen Klamotten wie Männer tragen dürfen, wenn sie
wollen. Und dass auch das Palästinensertuch und die Krankenkassenbrille ihr
"Retro" bekommen, wenn man nur lange genug darauf wartet.
3. Der größte Irrtum
Dass Kleidung auf Dauer demokratisiert werden kann. Sie dient immer dazu,
den Wunsch nach einem höheren Status, nach mehr Vitalität oder Geld zu
markieren. Darunter leiden Hartz-IV-Familien, weil sie ihrem Nachwuchs
keine Markenklamotten kaufen können.
4. Und heute?
Jeder neue Stil mit "Street Credibility" wird von Trendscouts umgehend den
Markenfirmen gemeldet, die wiederum ihre hohen Werbeausgaben durch noch
höhere Preise einspielen. Keine Randgruppe ist zu abgelegen, um nicht als
Stilgeber zu dienen. Aus den Gefängnissen, wo Inhaftierte aus
Sicherheitsgründen keine Gürtel tragen, kam etwa der
Hose-hängt-am-Arsch-Look. Der geht natürlich auch teuer.
Doch es gibt auch demokratische Gegenbewegungen zum Markenterror von Nike
und Picaldi. Wer sich als souveräner Mitkämpfer der No-Logo-Bewegung
präsentieren will, kombiniert die Steppjacke von Tchibo mit der markenlosen
20-Euro-Workerjeans aus dem Kaufhaus. Jüngere grenzen sich von den Älteren
ohnehin einfach ab: durch die bauchbetonte Mode. Wie viel Fett sich über
der Hüfthose wölbt, verrät umgehend die Generationenzugehörigkeit. Der
britische Guardian beschäftigt sich inzwischen seitenlang mit der Frage, ob
eine Fünfzigerin noch eine schwarze Lederjacke tragen darf. Die Stilfrage
ist heute vor allem für die Älteren heikel.
C) Drogen
1. Die Idee. Wer halluzinogene Drogen raucht oder einwirft, um die Chemie
im Hirn zu verändern, streift Enge im Denken ab, löst sich vom
materialistischen Streben und dringt in spirituelle Bewusstseinsdimensionen
vor. Diese Fantasie fand sich schon vor 1968. Bereits 1954 schilderte
Aldous Huxley in "Die Pforten der Wahrnehmung" seine verklärenden
Erfahrungen mit Meskalin. Zwischen 1960 und 1962 experimentierte der
US-Amerikaner Timothy Leary mit psilocybinhaltigen Pilzen im umstrittenen
"Harvard Psilocybin Project". 1968 schließlich veröffentlichte der
US-amerikanische Anthropologe Carlos Castaneda "Die Lehren des Don Juan",
eine fiktive Geschichte über die spirituelle Unterweisung durch einen
Indianer unter Zuhilfenahme halluzinogener Pilze, die das Ego ausschalten
sollen. Haschisch und Marihuana galten als Substanzen, die den Geist
friedlich stimmen. Und friedliebend zu sein, war als revolutionäres Synonym
für "schlaff" beliebt.
2. Die größte Errungenschaft
Es muss nicht unbedingt Teufelswerk sein, wenn man mit Chemie auf
Hirnfunktionen einwirkt.
3. Der größte Irrtum
Dass man durch Kiffen oder LSD-Einwerfen automatisch zum besseren Menschen
wird und sich nicht zum Arschloch entwickelt. Falsch ist auch, dass
halluzinogene Drogen keine Psychosen auslösen können, die nicht auch
ohnehin zum Ausbruch gekommen wären.
4. Und heute?
Gibt es so viele Drogen wie noch nie. Auf Krankenschein. In der Psychiatrie
entwickeln Forscher immer neue Medikamente, um in Hirnvorgänge einzugreifen
und psychotisch und depressiv Erkrankte behandeln zu können. Die
Verordnungszahlen von Serotoninwiederaufnahmehemmern und anderen
Antidepressiva steigen rasant. Ziel ist jedoch, Menschen wieder
realitätstauglich zu machen und nicht in spirituelle Höhen zu entführen.
Was Psychopharmaka leisten können und was nicht, das ist die neue
Drogenfrage.
D) Aussteigen durch Reisen
1. Die Idee. Wer sich mit wenig Geld aufmacht in fernöstliche Kulturen,
streift das bürgerliche Ich ab und verwandelt sich in einen geläuterten,
dem Materiellen abholden Menschen. Hermann Hesses "Siddharta. Eine indische
Dichtung", bereits 1922 veröffentlicht und in den Sechziger- bis
Siebzigerjahren in Deutschland inbrünstig gelesen, regte die "indische
Welle" an. Die Beatles weilten im Jahre 1968 mehrere Wochen im Ashram von
Maharishi Mahesh Yogi im indischen Rishikesh und übten sich in Techniken
der Transzendentalen Meditation. Fotos der Musiker im Hippielook mit dem
langhaarigen Guru gingen um die Welt und prägten die Idee der "spirituellen
Reise".
Damit stand das Rezept für die Aussteigerreise fest: Sie dauerte möglichst
mehrere Monate, führte zumeist in ärmere Regionen, häufig mit asiatischer
Kultur. Man trampte einen Teil der Strecke, arbeitete aber nie auf dem
Trip, jedenfalls nicht für Geld.
2. Die größte Errungenschaft
Reisen ist demokratischer geworden. Man kommt mit vergleichsweise wenig
Geld schon ziemlich weit herum. Der Tourismus baute die Ökonomie in den
Reiseländern mit auf und eröffnet der dort lebenden armen Bevölkerung, die
aus Geldmangel nicht reisen kann, ethnologische Einblicke in westliche
Verhaltensweisen.
3. Der größte Irrtum
Dass die Menschen aus ärmeren Regionen die tollere Kultur haben, weil sie
"durch das Geld noch nicht so versaut sind". Und dass es klasse ist, in
ärmeren Ländern die Preise gnadenlos auf einheimisches Niveau
herunterhandeln zu wollen. Der Bestsellerautor Khaled Hosseini beschreibt
in "Der Drachenläufer" eindrucksvoll, wie ein kleiner afghanischer Junge
die Hippies wahrnahm, die sich in den Siebzigern in Kabul niederließen. Er
konnte nicht begreifen, wie ein Mensch den ganzen Tag nichts tun kann; für
ihn verkörperten die Hippies eine Art pennerhafte Heimatlosigkeit.
4. Und heute?
Reist der junge Mensch nicht mehr in ferne Gefilde, um aus der westlichen
Gesellschaft auszusteigen, sondern um hinterher noch höher einzusteigen.
Mehrmonatige Auslandsaufenthalte für Ausbildung, Praktika oder
Freiwilligendienste sind angesagt, um den Lebenslauf karrierefördernd zu
schmücken. Der spirituelle Tourismus im Himalaja oder indische
Ayurveda-Resorts sind heute eher etwas für die Älteren in der Midlife
Crisis. Jüngere können zudem billig die eigene spirituelle Heimat
wiederentdecken: Reisen zum Selbst lassen sich heute preiswert und
ökologisch auf Pilgerwegen in Europa machen.
BARBARA DRIBBUSCH, Jahrgang 1956, taz-Redakteurin, lief mit fünfzehn auf
ihrer ersten Demo mit, geriet danach in die Hippiewelle, vertrug Haschisch
nie und besaß auch keinen Flokati
21 Dec 2007
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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68er
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