# taz.de -- Essay Befreiung des KZ Buchenwald: Haben wir versagt? | |
> Als Buchenwald befreit wurde, schworen wir, alles für eine neue Welt des | |
> Friedens zu tun. Aber dieses Ziel ist nicht einmal in absehbarer Nähe. | |
Bild: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung“, … | |
Vor siebzig Jahren, am 11. April 1945, leisteten die Überlebenden des | |
Konzentrationslagers Buchenwald einen Schwur, der mit folgenden Worten | |
endete: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung, | |
der Aufbau einer neuen Welt des Friedens ist unser Ziel. Das sind wir | |
unseren ermordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig. Zum Zeichen der | |
Bereitschaft für diesen Kampf erhebt die Hand zum Schwur!“ Und auf | |
Englisch, Französisch, Russisch, Polnisch und Deutsch ertönte es: „Wir | |
schwören!“ | |
Ich war damals sechzehn Jahre alt und wurde von einem der vielen | |
Sonderkommandos aus Langenstein-Zwieberge befreit. Ich hatte keine Ahnung | |
von diesem feierlichen Akt in meinem „Stammlager“ – das war Buchenwald in | |
der Sprache der SS. Verwundert stellte ich fest, dass ich augenscheinlich | |
am Leben geblieben war. Was in mir genau vorging, kann ich nicht mehr | |
nachvollziehen. | |
Sicher habe ich nicht an die zukünftige Welt gedacht, sondern wie ich nach | |
Hause nach Jugoslawien kommen kann und ob auch von meiner Familie jemand | |
überlebt hat. Trotzdem war und bin ich davon überzeugt, dass der Schwur | |
auch für mich gilt. Daher habe ich mir alle Verpflichtungen, die mit ihm | |
einhergehen, auferlegt. Auch wenn es pathetisch klingt, darauf bin ich | |
stolz. Aber ich frage mich auch: Haben wir im Laufe der letzten siebzig | |
Jahre eine neue Welt des Friedens geschaffen? | |
Das haben wir nicht. | |
Ist unser Ziel wenigstens in absehbarer Nähe? | |
Keineswegs. | |
Haben wir versagt? | |
Das Ziel ist nicht erreicht, solange auf der Welt Syrer, Iraker, Libyer, | |
Somalier, koptische Christen, Afghanen oder Palästinenser sterben müssen. | |
Egal ob sie sich am Dorn einer Rose gestochen haben oder ob es aus ihrer | |
durchschnittenen Kehle fließt, ihr Blut ist dasselbe wie unseres. | |
## Es geht um Freiheit | |
Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland warnte vor dem | |
Tragen jüdischer, traditioneller Kopfbedeckung in bestimmten Stadtvierteln. | |
Ich finde es fürchterlich, dass er so etwas sagen musste. Ein Kommentator | |
vom Spiegel, Philipp Löwe, machte dagegen den Vorschlag, möglichst viele | |
Menschen in Deutschland, gerade auch Nichtjuden, [1][sollten eine Kippa | |
tragen]. | |
Damit bin ich nicht einverstanden. Dann nämlich müsste auch empfohlen | |
werden, dass möglichst viele Frauen in Deutschland, gerade auch | |
Nichtmusliminnen, ihre Haare oder sogar ihr Gesicht bedecken sollten. Dabei | |
geht es doch um Freiheit. Jeder soll sich so kleiden, wie er möchte, ohne | |
dass ihm deshalb jemand nach dem Leben trachtet. | |
Als ich vor etwas mehr als zwanzig Jahren ein Feature für den WDR über mein | |
ehemaliges Lager vorbereitete und die Gedenkstätte auf dem Ettersberg bei | |
Weimar besuchte, sagte ich dem damals neuen Direktor, Volkhard Knigge, er | |
solle seine Arbeit wegen mir nicht unterbrechen, mir aber eventuell einen | |
Mitarbeiter zur Verfügung stellen. Er antwortete jedoch, er wolle sich | |
persönlich um mich kümmern, denn wenn ein ehemaliger Häftling zu Besuch | |
käme, hätte alles andere hintenanzustehen. Bald wird niemand in solche | |
Verlegenheiten kommen, ehemalige Häftlinge werden nicht mehr erscheinen, es | |
sei denn als Gespenster. | |
Man sagt zu Recht, dass unsere Erinnerungen für die neuen Generationen | |
wachgehalten werden sollen. Wie aber soll das gehen? Ich frage mich, wie | |
wohl der achtzigste Jahrestag der Befreiung von Buchenwald begangen wird. | |
Und wie der hundertste? Der wird mitten im 21. Jahrhundert sein. Was wird | |
dieses Jahrhundert dann zu feiern und zu beklagen haben? Es hat nicht gut | |
angefangen, an viel zu vielen Orten auf dieser Welt lodert der Hass, wird | |
gemordet und vernichtet. | |
## „Ich wurde ausgetauscht“ | |
Viele Buchenwaldhäftlinge waren Helden im Kampf gegen die Nazis und | |
innerhalb des SS-Staates. Meist ist von ihnen die Rede, und sie waren es | |
auch, die den Buchenwaldschwur geleistet haben. Meine Hochachtung! Die | |
meisten von uns aber waren Opfer, rassisch Verfolgte – Juden, Sinti und | |
Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, sogenannte Arbeitsscheue. Wir stehen im | |
Schatten jener Kämpfer. | |
Über den „Opferaustausch“ ist viel gestritten worden. Ein Überlebender aus | |
Buchenwald klagte sogar gegen den Gedenkstättenleiter, um zu verhindern, | |
dass im Zusammenhang mit seiner Biografie weiter von einem solchen | |
gesprochen wird. Mich geht dieses Thema persönlich an. Denn ich, genauso | |
wie meine Kinder und Enkelkinder, verdanken unser Leben der Tatsache, dass | |
ich ausgetauscht worden bin. So ist belegt, dass ich am 7. Oktober 1944 aus | |
dem Außenkommando Magdeburg in das Stammlager Buchenwald als | |
arbeitsuntauglich zurückgeschickt wurde. | |
Soviel ich weiß, sollte ich von dort aus weiter nach Auschwitz ins Gas | |
transportiert werden. Stattdessen aber wurde ich in das relativ sichere | |
Außenkommando Niederoschel abkommandiert. Ich weiß nicht, wer das | |
veranlasst hat. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß auch nicht, wer an meiner | |
statt auf den Transport zurück nach Auschwitz geschickt wurde. Ich habe es | |
mit der Hilfe der Mitarbeiter der Gedenkstätte Buchenwald versucht zu | |
recherchieren. Es ist uns nicht gelungen, Antworten auf meine Fragen zu | |
finden. Soll ich Gott sei Dank sagen? Soll ich zufrieden sein, weil ich | |
nicht weiß, wer an meiner Stelle ermordet worden ist? | |
## Kein gemeinsames Feiern | |
Mein kleines Beispiel – eines von sehr vielen – ist, so glaube ich, ein | |
Beweis, dass nicht, wie meist behauptet wird, nur Funktionshäftlinge ihren | |
Kopf auf Kosten anderer retten konnten, sondern dass sie die Verantwortung | |
übernommen haben, uns Unbekannte, die Überlebenschancen hatten, zu retten, | |
und dabei andere opferten. Ich kann glücklich sein, dass ich nie solche | |
Entscheidungen treffen musste, sondern dass über mich entschieden worden | |
ist. | |
In meiner Heimat, im ehemaligen Jugoslawien, brach vor zwanzig Jahren ein | |
Bürgerkrieg aus. Es ist sinnlos, mit Zahlen zu jonglieren, aber es geht um | |
über einhunderttausend Tote und mehrere Hunderttausend Vertriebene. Und | |
jetzt findet neues unsinniges Morden in der Ukraine statt. Und die Mächte, | |
die Hitlerdeutschland besiegt haben, können sich nicht einigen, den | |
siebzigsten Jahrestag dieses großen Sieges gemeinsam zu feiern. | |
Wir sind dem Ziel, das sich die Schwörenden gesetzt haben, | |
entgegengeschritten, aber es hat sich immer weiter von uns entfernt. | |
## Tausende Tote in Nigeria | |
Vor gut zwei Monaten haben Hunderttausende Tafeln und Aufschriften „Je suis | |
Charlie“ getragen, weil zehn Journalisten, Satiriker und Karikaturisten, | |
und auch zwei Polizisten in Paris ermordet wurden. Die gleichzeitig in | |
einem koscheren Lebensmittelgeschäft getöteten Juden fanden etwas weniger | |
Erwähnung. | |
Und die am selben Tag ermordeten 30 Polizeistudenten in Jemen und die am | |
nächsten Tag in Nigeria ermordeten 2.000 Babys, Kinder, Frauen und Greise | |
waren kaum eine Zeile wert. Jeden Tag werden Menschen von Menschen | |
ermordet. Maxim Gorki hat einst optimistisch gesagt: „Ein Mensch, wie stolz | |
das klingt!“ Dürfen wir zustimmen? | |
Sicher war nicht alles vergebens. In vielen Teilen der Welt leben die | |
Menschen freier und sicherer und auch länger und gesünder als früher, aber | |
in anderen eben nicht. Die Juden, die meistverfolgten und gepeinigten | |
Opfer, haben auch deshalb ein eigenes Land, einen Zufluchtsort erhalten. | |
Der Staat Israel ist bedroht, aber andere halten ihn für eine Bedrohung. | |
## „Von mir kann man nichts nichts erben“ | |
Mit dem Zustand, in dem wir leben, dürfen wir uns nicht zufriedengeben, die | |
Welt des Friedens und der Freiheit ist nur in einzelnen Ländern geschaffen | |
und neuerdings selbst dort wieder bedroht; und wie wird es weitergehen? | |
Unsere Kinder und Enkelkinder sind nun gefragt. Hoffentlich haben wir sie | |
richtig aufgeklärt und ihnen die richtigen Waffen, Werkzeuge und Ideen | |
anvertraut. | |
Vermächtnis ist ein großes Wort. Von mir kann man nichts erben. Was wir in | |
den Konzentrationslagern durchgemacht haben, mag und kann ich an niemanden | |
weitergeben, und insofern kann, darf und will ich nicht bestimmen, was der | |
Generation, die das deutsche Erbe antritt, von ihren Großeltern und | |
Urgroßeltern vermacht wird und wie sie damit umgehen soll. Wir, die man | |
Zeitzeugen nennt, treten ab und überlassen die Bühne der Zukunft. | |
Ich konnte dieses Jahr nicht nach Weimar kommen, konnte in Buchenwald keine | |
Rede halten und mich von den noch anwesenden und den verstorbenen Kameraden | |
verabschieden. Ein persönlicher Abschied hielt mich in Belgrad fest. Es | |
gibt ein kitschiges österreichisches Lied, das einige Zeilen enthält, die | |
ich so gerne mag: | |
„Sag beim Abschied leise Servus, nicht Lebwohl und nicht Adieu, diese | |
Wörter tun nur weh.“ Servus, Kameraden! Servus, liebe Mitmenschen! | |
11 Apr 2015 | |
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[1] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/kippa-in-deutschland-kommentar-a-… | |
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