# taz.de -- Sohn eines KZ-Kommandanten: „Verbrecher und ‚Untermenschen‘“ | |
> Wie der 87-jährige Sohn eines Nazi-Verbrechers sich der Vergangenheit | |
> stellt: Walter Chmielewski über seinen Vater Carl, SS-Mann und Kommandant | |
> des KZ Gusen. | |
Bild: 29. April 2015: Das rekonstruierte Metalltor mit der Aufschrift „Arbeit… | |
taz: Herr Chmielewski, „Ein guter Häftling hält es nicht länger als 3–4 | |
Monate im KZ aus; wer es länger aushält, ist ein Gauner“ lautete ein | |
Leitsatz Ihres Vaters, SS-Hauptsturmführer und KZ-Kommandant Carl | |
Chmielewski. Wie geht es Ihnen, wenn Sie diesen Satz heute hören? | |
Walter Chmielewski: Dieser furchtbare Satz bestätigt mir, wie richtig die | |
Verachtung meinem Vater gegenüber war. Leider erkannte ich den wahren | |
Menschen Carl Chmielewski erst zu spät, aber als Kind ist man nicht fähig, | |
so klar zu sehen oder zu beurteilen. Heute überkommt mich bei diesem Satz | |
Übelkeit gegenüber einer solchen Menschenverachtung. | |
Mit sechs Jahren haben Sie zum ersten Mal ein Konzentrationslager von innen | |
gesehen. Sie sind in das KZ-Sachsenhausen zum Haareschneiden gegangen. Sie | |
hörten Schüsse, sahen Krematorien, rochen den Gestank der verbrannten | |
Leichen. Haben Sie verstanden, was um Sie herum passierte? | |
Als Kind kann man all dies nicht richtig begreifen, man kann es nicht | |
verstehen oder beurteilen. Natürlich habe ich meinen Vater gefragt, warum | |
sie die Menschen so schlecht behandeln. Es seien alles Verbrecher und | |
„Untermenschen“, antwortete er mir. Ich war entsetzt, habe meinen Vater in | |
solchen Momenten verabscheut, aber ich war in solch einem Zwiespalt. Denn | |
wenn ich mit ihm spazieren gegangen bin und er in seiner fantastischen | |
Uniform beachtet wurde, dann war ich auch stolz auf ihn. Es war eine ganz | |
eigenartige Situation. Ich lernte die ganze „SS-Prominenz“ von Rudolf Höß | |
bis Franz Ziereis kennen. | |
Wann haben Sie realisiert, dass um Sie herum ein Völkermord geschieht und | |
Ihr Vater aktiv an dieser Vernichtung teilnimmt? Seine Brutalität brachte | |
ihm den Beinamen „Der Teufel von Gusen“ ein – dem Titel Ihres nun | |
erschienen Buches. | |
Ich habe nichts davon geahnt. Als Sohn eines SS-Offiziers besuchte ich eine | |
„Nationalpolitische Erziehungsanstalt“, da ging es nur um militärische | |
Erfolge. Niemals und nirgends fiel das Wort „Konzentrationslager“. Bis zum | |
Kriegsende wusste ich nicht, dass das KZ Gusen kein gewöhnliches | |
Konzentrationslager war, sondern ein Vernichtungslager. Es gab also Quoten, | |
wie viele Menschen man umbringen musste. Ich wusste, dass Menschen ermordet | |
wurden. Zwar erzählte mein Vater von seiner Arbeit, aber die Dimension war | |
mir nicht bewusst. | |
Sie wurden im Frühjahr 1940 von Ihrer Mutter nach Österreich geholt. Damals | |
waren Sie elf Jahre alt und lebten mit Ihrer Familie wenige Kilometer vom | |
KZ Gusen entfernt. Trotz dieser Nähe, Ihres Zugangs zu den Lagern in | |
Sachsenhausen und Gusen und der Erzählungen Ihres Vaters haben Sie nicht | |
die Ungeheuerlichkeit ahnen können? | |
Ja, dem ist so. Mein Vater berichtete beim Abendessen von all den | |
Selbstmorden oder wenn im Steinbruch Menschen verunglückten. So nebenbei, | |
als wenn es täglich Brot für ihn wäre. Ich fand es furchtbar, aber ich | |
konnte mir einfach nicht vorstellen, dass da drinnen tausende gemordet | |
wurden. Ich dachte, dass in den Krematorien diejenigen wenigen verbrannt | |
wurden, die im Steinbruch ums Leben kamen. | |
Trotz dieser Brutalität beschreiben Sie Ihren Vater als fürsorglichen | |
Familienvater. | |
Ich persönlich kann mich kaum über ihn beklagen, er war immer gut zu mir. | |
Aber natürlich war er zweifelsohne ein Mörder. Trotzdem glaube ich, dass | |
all die blutigen Exzesse im Suff passiert sind. Nüchtern wird er all das | |
nicht geschafft haben, im Suff traue ich ihm aber alles zu. Diese Seite | |
nannte ich „das andere Gesicht“. In solchen Momenten war ich unfähig, zu | |
reagieren. | |
Können Sie sich noch daran erinnern, wie Hitler Ihnen in München 1940 die | |
Wange tätschelte? | |
Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich beobachtete die | |
Veranstaltung mit einer Mischung aus Neugier und Abscheu. Hitler hat die | |
Hauptstadt seiner Bewegung besucht. Ich freute mich, dass mein Vater und | |
ich in unseren Uniformen so viel Beachtung bekamen. Da kam wieder diese | |
Zerrissenheit durch. Vor uns war eine alte Frau, die so glücklich war, den | |
Führer nochmals live zu erleben – und ich hatte noch Mitleid mit ihr, weil | |
ich das so erbärmlich fand. In der SS-Zentrale, im „Braunen Haus“, wo dann | |
Hitler vorbeikam, stellte mich mein Vater seinem „Führer“ vor. Ich habe | |
stramm „Heil Hitler“ gesagt. Dann hat mich Hitler mit einem sanften Lächeln | |
angeschaut und gesagt: „Ja, so stelle ich mir die Zukunft Deutschlands | |
vor.“ | |
Sie sind 1945 in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten. Wusste man, | |
wer Ihr Vater war? | |
Nein, ich habe mir einen anderen Namen zugelegt, mein Soldbuch habe ich | |
zuvor entsorgt. Es war eine traumatisierende Zeit voller Schmerz. | |
Was meinen Sie damit konkret? | |
Als Kriegsgefangener musste ich nach Gusen, wo mein Vater als erster | |
Lagerkommandant auch gemordet hatte. Dort mussten wir ein Massengrab | |
schaufeln. Wir haben einen fürchterlichen Leichenhaufen aufgefunden. Wenn | |
ich heute einen Knochen von mir berühre, fällt mir immer wieder ein, wie | |
ich die erste Leiche angefasst habe, die kaum noch Haut hatte, sondern nur | |
noch ein Skelett war. Wir mussten in die Gräber hinabsteigen, um die | |
Gesichter nach oben zu drehen. Es war fürchterlich, dieser Gang auf toten | |
Körpern, wie auf einem Luftkissen. | |
Wie lebt es sich mit solch einem historisch belasteten Erbe? | |
Wie ich damit leben konnte, weiß ich selbst nicht so genau – aber es ist | |
mir weitgehend gelungen. | |
Ihrem Vater wurden seine außerehelichen Affären zum Verhängnis. Ohne sich | |
von Ihrer Mutter scheiden zu lassen, heiratete er nochmals. Er wurde wegen | |
Bigamie verurteilt, und erst da kam raus, dass er sich einen Tarnnamen | |
zugelegt hatte und wer er eigentlich war. 1961 wurde er wegen 282-fachen | |
Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, 18 Jahre verbrachte er im Gefängnis | |
und seine letzten 12 Lebensjahre in Freiheit. | |
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon seit langer Zeit mit meinem Vater | |
gebrochen, wir haben uns zuletzt im April 1945 gesehen. Die Verfahren habe | |
ich aus der Ferne verfolgt. Es war schockierend, weil ich Angst hatte, dass | |
ich durch all die Zeitungsberichte meinen Job verlieren könnte. Aber die | |
Menschen haben mich eher ermutigt, mir immer wieder gesagt, dass mein Vater | |
der Verbrecher sei und ich nichts damit zu tun habe. Sein Schicksal hat | |
mich nicht berührt, das Verhältnis war so zerstört, dass es mir eigentlich | |
egal war, was mit ihm passierte. Der war mir so fremd, und meine | |
Distanzierung war auch eine Überlebensstrategie. | |
Dennoch haben Sie sich 1979 wieder auf Treffen mit ihm eingelassen. Warum? | |
Es war wieder solch ein fürchterlicher Zwiespalt. Einerseits wollte ich ihn | |
nie wieder sehen, seine Zweitfrau, auch eine Person rechts außen, | |
schilderte mir, er sei blind, krank. Er habe nur einen Wunsch vor seinem | |
Tod, mich zu sprechen. Dann habe ich mich überreden lassen und bin | |
hingefahren. Aber ich habe außer Mitleid nichts für diesen alten Mann | |
empfunden. Kurioserweise erlebte ich einen sanften, liebenswürdigen Herrn. | |
Niemand hätte glauben können, dass er ein fürchterlicher SS-Scherge war, | |
der tausenden Menschen den Tod gebracht hat. | |
Haben Sie über seine Taten gesprochen? | |
Nein, ich wollte auch nicht darüber reden. Es wäre zu ganz schlimmen | |
Auseinandersetzungen gekommen, denn er war sich keiner Schuld bewusst, hat | |
nie verstanden, warum er ins Gefängnis musste. Er hatte ja sogar noch | |
Kontakt zu Gudrun Burwitz, der Tochter von Heinrich Himmler. | |
Die auch bei der Beisetzung Ihres Vaters im Dezember 1991 anwesend war. War | |
sein Tod eine Erleichterung für Sie? | |
Ich war weder froh noch entsetzt, es war mir gleichgültig. | |
Warum jetzt dieses Buch? Sie sind 86 Jahre alt. Reißen Sie nicht nur alte | |
Wunden auf? | |
Natürlich ist die Vergangenheit aufwühlend, und all das geht sehr stark an | |
die Substanz. Es sind furchtbare Erinnerungen, die ich vergessen wollte, | |
aber nie vergessen konnte. Die Bilder von den Massengräbern waren immer | |
unterschwellig da, und heute bin ich froh, dass dieses Buch entstanden ist. | |
Es ist keine Abrechnung. Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen, die | |
Konzentrationslager von innen gesehen haben. | |
6 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Cigdem Akyol | |
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