| # taz.de -- NS-Geschichte und Rechtsextremismus: Gebell und Gedenken | |
| > Die Rechte in Bayern beruft sich unverblümt auf den Nationalsozialismus. | |
| > Das neue NS-Dokumentationszentrum in München ist deshalb um so wichtiger. | |
| Bild: Steht da ganz solide und lässt sich durch ein bisschen Nazi-Krach nicht … | |
| Ein milder Samstagabend Ende April am Max-Josef-Platz in der Münchner | |
| Innenstadt. Ringsum liegen Kulturinstitutionen von Weltruf, das | |
| Residenztheater und die Bayerische Staatsoper. Inmitten flanierender | |
| chinesischer Touristen und Opernbesuchern auf dem Weg in die | |
| Abendvorstellung halten Neonazis eine Mahnwache ab. Unweit der | |
| Feldherrenhalle, einem der Schauplätze des Hitler-Putsches vom 8. November | |
| 1923, wo sie aber nicht demonstrieren dürfen. | |
| Vor den Spielstätten hängen Protestbanner. „Schleichts Euch. Kein Fußbreit | |
| dem Faschismus“ am Residenztheater, „Humanität, Respekt, Vielfalt“ an der | |
| Staatsoper. Davon unbeeindruckt gedenken die Neonazis nur wenige Meter | |
| entfernt des Holocaust-Leugners Reinhold Elstner, der sich aus Protest | |
| gegen die Wehrmachtsausstellung 1995 vor der Feldherrenhalle verbrannt hat. | |
| „Dein Tod ist uns Fanal“, steht auf einem Spruchband, das sie schweigend | |
| halten. | |
| Vorne Karl-Heinz Statzberger, wegen seiner Mitbeteiligung am geplanten | |
| Anschlag auf den Bau der israelitischen Kultusgemeinde am Jakobsplatz zu | |
| einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Er trägt ein Birkenkreuz mit | |
| Stahlhelm und fixiert die anwesenden Journalisten und Fotografen. Alle | |
| Augen der Polizisten, die um die Mahnwache mit Absperrgittern ein Spalier | |
| gebildet haben, sind dagegen auf die circa 30 Gegendemonstranten gerichtet, | |
| die lauthals in Richtung der Nazis skandieren: „Ihr habt den Krieg | |
| verloren!“ | |
| Aktionen wie diese sind an der Tagesordnung, versichert der | |
| Rechtsradikalismus-Experte Robert Andreasch, der die bayerische Naziszene | |
| seit langem im Blick hat. In München führt Andreasch zusammen mit anderen | |
| das AIDA-Archiv, eine Beobachtungsstelle für Neonazi-Aktivitäten. Er | |
| schätzt die lokale Szene als besonders radikal ein, da sie auf den | |
| historischen Nationalsozialismus rekurriert. | |
| Das heißt, der NS wird von den Rechtsextremen nicht trotz, sondern gerade | |
| wegen seiner Massenverbrechen, seines antisemitischen Rassenwahns und | |
| seiner Vernichtungskriege verherrlicht. „Wenn Neonazis dermaßen exzessiv | |
| auf den historischen Nationalsozialismus Bezug nehmen, ist das eine ernste | |
| Bedrohung der Demokratie“, warnt Andreasch. | |
| ## Rechte Normalisierungstaktik | |
| Zurück geht diese Radikalität auf eine Demonstration gegen die | |
| Wehrmachtsausstellung in München am 1. März 1997. Auch vor 18 Jahren nahmen | |
| geschichtsrevisionistische Thesen zentrale Bedeutung für die Identität der | |
| Münchner Naziszene ein, die damit bundesweit mobilisierte. Damals | |
| marschierten 6.000 Rechte auf, darunter auch der spätere NSU-Terrorist Uwe | |
| Mundlos. Ihr Zug zum Ausstellungsort wurde von Zehntausenden blockiert. | |
| Inzwischen hat sich die Vorgehensweise der Rechten geändert. An jenem | |
| Samstagabend sind bestenfalls ein Dutzend Personen auf der Straße, darunter | |
| adrett gekleidete ältere Herren und zwei Frauen. Heute verfolgen die | |
| Neonazis eine Normalisierungstaktik, sagt Robert Andreasch. Mit geringem | |
| Aufwand führen sie möglichst sichtbar im öffentlichen Raum eine Vielzahl | |
| von Aktionen durch. So etwa Proteste gegen den NSU-Prozess. | |
| Auch eine Kundgebung gegen den Festakt zur [1][Eröffnung des | |
| NS-Dokumentationszentrums] am 30. April passt in dieses Raster. Da waren es | |
| zehn Neonazis unter Führung von Philipp Hasselbach, die sich während dreier | |
| Stunden beim Plärren in ein Megafon abwechseln. Mit solchen Aktionen sollen | |
| Stress erzeugt, Gegenproteste zermürbt werden, bis rechtsradikale | |
| Manifestation kein Aufsehen mehr erregt. | |
| An jenem Tag stellten sich ihnen 100 Menschen entgegen. Genehmigt worden | |
| war die Nazidemo vom bayerischen Verwaltungsgerichtshof mit der Begründung, | |
| die Stadt München könne nicht beweisen, dass der Neonazi-Aufzug für die | |
| Festgäste, NS-Opfer und ihre Angehörigen unzumutbar sei. Das Megafon-Gebell | |
| war während des Festaktes zu hören. | |
| ## Zeitzeugen werden weniger | |
| München ist mehr als jede andere deutsche Stadt mit dem Aufstieg des | |
| Nationalsozialismus verknüpft. Er entstand dort in den Wirren nach dem Ende | |
| des Ersten Weltkriegs. Hitler übersiedelte bereits 1913 nach München, wo er | |
| bald seine demagogische Rhetorik erprobte und sein Weltbild festigte. | |
| Unterstützung erhielt Hitler aus allen Schichten der Gesellschaft, von | |
| Industriellen-Gattinnen und einfachen Handwerkern, aber auch aus höchsten | |
| Kreisen in Polizei, Militär und Justiz. Vielleicht hat die Aufarbeitung des | |
| Nationalsozialismus in der Stadt auch deshalb so lange gedauert, weil die | |
| vielen braunen Flecken in den Familien und Betrieben nach 1945 übertüncht | |
| wurden. | |
| Auch da die Zeitzeugen weniger werden, ist eine sichtbare Erinnerungskultur | |
| an den Nationalsozialismus wichtiger denn je. Und mit der Eröffnung des | |
| NS-Dokumentationszentrums gibt es 70 Jahre nach der Befreiung von seiner | |
| Gewaltherrschaft endlich einen Ort in der bayerischen Landeshauptstadt, an | |
| dem man sich zentral mit der Entstehung und den Folgen der NS-Diktatur in | |
| München auseinandersetzen kann. | |
| Mit seinen Opfern, den zunächst rassistisch ausgegrenzten und dann | |
| ermordeten Münchner Juden, Roma und Sinti, den politischen Gegnern und den | |
| 120.000 Zwangsarbeitern, die während des Zweiten Weltkriegs unter | |
| unmenschlichen Bedingungen in der Stadt gefangen gehalten wurden, aber auch | |
| mit den Nazitätern, den zahllosen Münchnern, die bis zuletzt im Namen des | |
| NS grauenhafte Massenverbrechen begangen haben. Zudem wird dargestellt, was | |
| nach 1945 in der Aufarbeitung versäumt wurde, die Brüche der | |
| Entnazifizierung und die bis heute nicht gebannte Gefahr von rechts. | |
| Auch deshalb heißt das Dokumentationszentrum „Lern- und Erinnerungsort zur | |
| Geschichte des Nationalsozialismus“. Fragt man seinen Leiter, den | |
| Architekturhistoriker Winfried Nerdinger, was ihm in seiner Schulzeit in | |
| den fünfziger Jahren vom Geschichtsunterricht erinnerlich ist, antwortet | |
| er: „Das sogenannte Dritte Reich war kein Thema. Man endete damals beim | |
| Ersten Weltkrieg. Der Einschnitt kam mit der Schmierwelle 1959–60, als | |
| überall in Deutschland jüdische Friedhöfe und Einrichtungen mit | |
| Hakenkreuzen beschmiert wurden. Erst dann wurden die Lehrpläne umgestellt.“ | |
| ## „Geschichte als Motivation“ | |
| Anders als bei seinen Klassenkameraden, deren Eltern schwiegen, war der NS | |
| bei ihm zu Hause Dauerthema. Nerdingers Vater war Mitglied der | |
| Sozialistischen Arbeiter Jugend (SAJ) und kämpfte im Untergrund gegen die | |
| Nazis. Dafür kam er in Gestapo-Haft, die er überlebte, anders als viele | |
| seiner Freunde, die hingerichtet wurden. | |
| Heute sagt sein Sohn: „Wir müssen das helle Licht der Vernunft auf diese | |
| dunkle Zeit werfen.“ Wenn man das Gebäude des NS-Dokumentationszentrums von | |
| außen betrachtet, arbeitet diese Aussage nach. Denn der Bau passt sich | |
| nicht der Architektur in der Umgebung an. In unmittelbarer Nähe am | |
| Königsplatz und der angrenzenden Arcisstraße stehen klassizistische und | |
| neoklassizistische Bauten und ehemalige Verwaltungsgebäude der NS-Zeit. | |
| Alle sind in Naturstein gehalten und bis zur Unsinnigkeit symmetrisch | |
| ausgerichtet. Der schräg angeordnete weiße Würfel des | |
| Dokumentationszentrums setzt schon durch seinen Beton einen baulichen | |
| Kontrast. Seine Fenster sind asymmetrisch gesetzt. | |
| „Man ist mitten in der Stadt und sieht die historischen Nazigebäude in der | |
| Nachbarschaft. Man merkt sofort, die Geschichte ist mitten unter uns“, | |
| erzählt Aaron Buck, Pressesprecher der israelitischen Kultusgemeinde | |
| München, von den Eindrücken bei seinem ersten Besuch. Aus Bucks | |
| Ausführungen spricht Zuversicht, was SchülerInnen anbelangt, die ihn | |
| angesichts von Projekttagen und Seminaren mit Fragen überhäufen und ganz | |
| selbstverständlich bekunden, dass sich die NS-Geschichte nicht wiederholen | |
| darf. Buck blickt aber auch mit Sorge in die Zukunft. | |
| In letzter Zeit erhalte er regelmäßig Anrufe von Menschen, die sagen, sie | |
| stünden der [2][Friedensbewegung nahe, und dann bekomme er die krudesten | |
| Verschwörungstheorien zu hören]. „Es gibt einen schmutzigen Rand ganz | |
| rechts, aber auch ganz links, und es gibt in der Mitte der Gesellschaft | |
| eine Empfänglichkeit für antijüdische Ressentiments.“ Angesichts von | |
| Übergriffen auf Flüchtlingsheime, aber auch von Homophobie oder Mobbing auf | |
| Schulhöfen müsse man den jungen Generationen „Geschichte nicht als Last | |
| verkaufen, sondern als Motivation für heute“. | |
| ## Übergriffe auf Flüchtlinge | |
| Die Dringlichkeit von Bucks Aussage wird von der Statistik unterstrichen. | |
| Die Anzahl von Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte in Bayern stieg von | |
| drei (2003) auf 25 (2014). Gab es zwischen 2007 und 2013 insgesamt 56 | |
| rassistisch motivierte Kampagnen gegen Flüchtlinge, wurden 2014 alleine 99 | |
| gezählt. „Fünf der NSU-Morde wurden in Bayern begangen“, erklärt Kathari… | |
| Schulze, Landtagsabgeordnete der Grünen, der die aktuellen Zahlen nach | |
| schriftlichen Anfragen von Regierungsstellen genannt wurden. „Rechtsextreme | |
| Einstellungen verfangen schon bei der Ausgrenzung Andersdenkender.“ Ein | |
| Drittel aller Bayern, so fand etwa die Mittel-Studie heraus, zeige | |
| ausländerfeindliche Tendenzen. | |
| Über die Gefahren von rechts und ihre korrekte Einordnung streitet sich | |
| Schulze oft mit dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU). Bei | |
| der Präsentation des bayerischen Verfassungsschutzberichts 2014 am 27. | |
| April polterte Hermann, Schulze verbreite „groben Unfug“, nur, weil sie das | |
| 2007 ersonnene „Handlungskonzept gegen Rechts“ der Staatsregierung auf den | |
| Prüfstand stellen möchte. Daran sei aber „im Prinzip alles richtig“, find… | |
| Hermann. | |
| Immerhin, der Innenminister redet die Gefahr von Rechtsaußen heute nicht | |
| mehr klein. Er warnt vor zunehmendem Antisemitismus und Agitation gegen | |
| Migranten. 538 Straftaten von Rechten habe es 2014 in Bayern gegeben, seine | |
| Behörde ginge von bis zu 350 Mitgliedern alleine beim verbotenen Netzwerk | |
| „Freies Netz Süd“ aus, das sich inzwischen in der Organisation „Der Drit… | |
| Weg“ sammelt, und bescheinigt diesem hohe Gewaltbereitschaft. Herrmann | |
| verschweigt auch nicht, wie sich das Engagement der Rechtsradikalen bei den | |
| Mügida-Demonstrationen auch in München weit in die bürgerliche Mitte | |
| vorgewagt hat. | |
| „Es gibt die Versammlungsfreiheit in Deutschland, und dies bedeutet, dass | |
| Nazis auf die Straße gehen können“, sagt Katharina Schulze. Daher reichen | |
| ihr die sicherheitspolitischen Konzepte der CSU im Kampf gegen rechts nicht | |
| aus. „Demokratie beginnt von unten, wenn Menschen uneigennützig | |
| Zivilcourage zeigen und sich den Nazis entgegenstellen. Diese Leute werden | |
| von der bayerischen Staatsregierung allein gelassen.“ | |
| UPDATE 11.05., 15 UHR: In einer früheren Version dieses Texte hieß es, | |
| NPD-Mitglied Roland Wuttke, der auch auf der genannten Neonazi-Demo war, | |
| sei „wegen seiner Mitbeteiligung am geplanten Anschlag auf den Bau der | |
| israelitischen Kultusgemeinde am Jakobsplatz zu einer mehrjährigen | |
| Haftstrafe verurteilt“ worden. Dies war falsch. | |
| 10 May 2015 | |
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| Julian Weber | |
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