| # taz.de -- Widerstand im Nationalsozialismus: Die Wahrheit aus zehn Metern Tie… | |
| > Ludwig Göhring druckte im Dritten Reich in einer Höhle Flugblätter gegen | |
| > die Nazis. Zwischen den bemoosten Felsbrocken erinnert keine Tafel an | |
| > ihn. | |
| Bild: Eine Tafel für Widerstandskämpfer im NS in der Gedenkstätte Deutscher … | |
| Das Dorf heißt „See“. Vierzig Kilometer östlich von Nürnberg liegt es. V… | |
| dort führt eine enge Straße zur Seniorenresidenz „Morgenhöhe“. Im | |
| Aufenthaltsraum sitzen Männer und Frauen bei Kaffee und Kuchen. | |
| Irma Göhring ist vom Tisch aufgestanden und führt den Besuch außer | |
| Hörweite. „Die würden das gar nicht verstehen“, sagt sie, schmal, mit | |
| blauen Augen. In der einen Hand trägt sie ihre Tasse, in der anderen den | |
| Teller. Helfen lässt sie sich nicht. | |
| Erst vor zwei Wochen, mit 92 Jahren, ist sie hier eingezogen. Viel hat sie | |
| nicht mitgenommen. Im Regal in ihrem Zimmer steht ein Porträt von Ludwig, | |
| ihrem Mann, seit 15 Jahren tot. Ernst blickt er in die Kamera, sein Mund | |
| ist ein schmaler Strich. | |
| Irma Göhring setzt sich und schaut aus dem Fenster auf dichten Wald. Liefe | |
| sie dort 25 Kilometer gen Norden, käme sie zur Anton-Völkl-Grotte. Kein | |
| Schild nennt den Namen der Höhle unter den bemoosten Felsbrocken. Nur einen | |
| Hinweis, dass Fledermaus-Schutzzeit ist, gibt es. So unspektakulär der Ort | |
| auch ist, das Leben von Irma und Ludwig Göhring hat er dennoch geprägt. | |
| ## Geheimtipp Anton-Völkli-Grotte | |
| Mit 18, die Lehre zum Flaschner abgeschlossen und arbeitslos, tingelt | |
| Ludwig Göhring umher. „Aber er ist nicht nur gewandert“, erzählt seine | |
| Frau. „Er hat auch versucht zu verstehen, warum so viele arbeitslos sind.“ | |
| Beim Arbeiterjugendtag der Skandinavischen Sozialistischen Jugend in | |
| Kopenhagen diskutiert Göhring mit anderen jungen Arbeitslosen und | |
| skandinavischen Arbeitern. Er zieht durch Schweden, bis er ausgewiesen | |
| wird. Zurück in Nürnberg tritt er der KPD bei. Damals war sie noch im | |
| Stadtrat, in jedem Stadtteil waren Gruppen aktiv. | |
| Kurz bevor die Nazis die KPD im Februar 1933 verbieten, schaffen | |
| Parteimitglieder eine Druckmaschine in die Gartenstadt, ein traditionelles | |
| Arbeiterviertel im Süden Nürnbergs. In einer Laube vervielfältigen die | |
| Kommunisten die Blätter der sozialistischen Freiheitsaktion. Zwei Genossen | |
| wählen Texte aus der Roten Fahne und der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung | |
| aus. Göhring zeichnet den Titelkopf für die vierseitige Zeitung. | |
| Das Papier wird per Hand durch die Maschine gekurbelt. Die Mechanik ist so | |
| laut, dass die Kommunisten nach tausend Exemplaren aufhören. Zu groß die | |
| Gefahr, entdeckt zu werden. Ein Mitarbeiter der städtischen Wasserwerke, | |
| der in seiner Freizeit Höhlen erforscht, gibt einen Tipp: die | |
| Anton-Völkl-Grotte in der Fränkischen Schweiz. Die KPD-Bezirksleitung | |
| beauftragt Göhring und einen Genossen, die nächsten Widerstandsblätter dort | |
| unter Tage zu drucken. | |
| Hinein in die Höhle geht es bäuchlings. Zwischen zwei Felsbrocken hindurch, | |
| die Öffnung ist kaum einen Meter breit. Bald wird der Spalt so schmal, dass | |
| man sich hindurchquetschen muss. An der Decke krabbeln unzählige | |
| Weberknechte. | |
| ## Bis zu 2000 Zeitungen pro Nacht | |
| Wer nicht weiß, dass es weiter vorne geräumiger wird, macht kehrt. Mutige | |
| schieben sich seitlich durch die staubigen Felswände. Es ist so eng, Kopf | |
| und Füße können nicht gedreht werden. Nach atemlosen Sekunden öffnet sich | |
| der Boden nach unten in einen zehn Meter langen Felsschacht. Kein | |
| Tageslicht dringt bis hierher. | |
| Unten angekommen, weicht die beklemmende Enge des Abstieg einem Gefühl, das | |
| zwischen Heimeligkeit und Unheimlichkeit schwankt. Es ist still, nur von | |
| den Stalaktiten lösen sich Wassertropfen und fallen auf beinahe ebenen | |
| Felsboden. Weiße Atemwolken kräuseln sich im Schein der Stirnlampe. Etwa 25 | |
| Meter ist die Höhle lang und 16 Meter breit. Hinter wuchtigen Felstrümmern | |
| kann man noch einmal ein paar Meter nach unten klettern. Dort ist es | |
| sandiger. | |
| Im Juni 1933 wagt sich der junge Göhring zum ersten Mal in den Schacht. | |
| Seine Beine sind lang genug, dass er sich, den Rücken gegen die eine | |
| Felswand gedrückt, barfuß an der anderen abstützen kann. Ein Freund, zu | |
| ängstlich, um mitzukommen, leuchtet von oben mit einer Karbidlampe. | |
| In einem der Sandhaufen im hinteren Höhlenteil vergräbt Göhring die | |
| Druckmaschine, eingeschlossen in eine mit Wachspapier ausgeschlagene Kiste. | |
| Per Motorrad hat er sie zur Höhle geschafft und, in Einzelteile zerlegt, | |
| mit einem Seil hinabgelassen. Zwischen Juni und August 1933 verbringt | |
| Göhring vier Nächte allein in der Höhle, vervielfältigt jede Nacht zwischen | |
| 1.000 und 2.000 Zeitungen und transportiert sie zurück nach Nürnberg. | |
| ## Eine Hausfrau hat ihn verraten | |
| Auch am 12. August 1933, einem Samstag kurz nach seinem 23. Geburtstag, | |
| klettert Göhring abends fast schon routiniert in die Höhle. Im Rucksack hat | |
| er Karbid für sechs Stunden Licht, Wasser, belegte Brote und Papier. Etwa | |
| vierundzwanzig Stunden später hat er die bedruckten Blätter in mehrere | |
| Päckchen verschnürt und legt sich im Höhleneingang schlafen. | |
| Am Montagmorgen um fünf Uhr schultert er den schweren Rucksack und macht | |
| sich auf den Weg zum Bahnhof im Dörfchen Velden. Er sieht aus wie ein | |
| gewöhnlicher Wanderer. Gemeinsam mit Arbeitern aus der Gegend erreicht er | |
| um acht Uhr den Nürnberger Ostbahnhof. Kuriere nehmen die Pakete, bis auf | |
| zwei, die noch im Rucksack sind, in Empfang. | |
| Unschlüssig steht er und wartet, ob die Packen noch abgeholt werden. Es | |
| sind seine letzten Minuten in Freiheit – für mehr als elf Jahre. Als er | |
| Richtung Tram geht, springt ein SA-Offizier über einen Zaun und drückt | |
| Göhring eine Pistole an die Brust. Eine Hausfrau hatte ihn beobachtet und | |
| verraten. | |
| Was die Fränkische Landeszeitung sechs Tage später über die kommunistische | |
| Höhlendruckerei berichtet, können Besucher des Nürnberger | |
| NS-Dokumentationszentrums noch heute nachlesen. Ein Faksimile der | |
| Zeitungsseite findet sich auf einer der drei schwarz-roten Tafeln, die über | |
| den Arbeiterwiderstand informieren. | |
| ## Ein Dokumentationszentrum berichtet von ihm | |
| Vier Fotos zeigen Göhring, wie er ein Flugblatt druckt, begutachtet und | |
| eine Seilwinde bedient – angeblich um einen Helfershelfer hinabzulassen. | |
| Dass er ganz allein in der Höhle war, glaubten ihm die NS-Schergen nicht. | |
| Den Standort der heimlichen Druckerei hatten die Polizisten zuvor mit | |
| Gummiknüppeln und Ochsenziemern aus Göhring herausgeprügelt. Dann zwangen | |
| sie ihn, seine Drucktätigkeit für Fotos nachzustellen. | |
| Es ist Jahre her, seit Irma Göhring das Dokuzentrum besucht hat. In einem | |
| der ersten Ausstellungsräume hängt, daran erinnert sie sich, ein Porträt, | |
| das ihren Mann von der rechten Seite zeigt. „Rechtshänder schlagen ja auf | |
| die linke Seite. Sie haben ihn so hingestellt, dass man die geschwollene | |
| Seite nicht sieht“, sagt sie. | |
| Über einen Lautsprecher können die Besucher Göhring zuhören, wie er | |
| Historikern von seiner Verhaftung berichtet. Er spricht in der | |
| versachlichten Sprache der Täter: „Ich war drei Tage in Nürnberg | |
| Vernehmungen ausgesetzt und wurde am 17. August in den Abendstunden | |
| zusammen mit weiteren zwei Genossen nach Dachau überstellt. Wir waren | |
| Misshandlungen ausgesetzt.“ | |
| ## Vom KZ an die Ostfront | |
| Irma Göhring beugt sich über ihren Esstisch, das Ohr ganz nah am Handy, mit | |
| dem die Audiodatei aufgenommen wurde und lauscht der emotionslosen Stimme | |
| ihres Mannes. „Windig“ und „belanglos“, schimpft sie. | |
| Göhrings weiteres Schicksal bleibt im Dokuzentrum unerwähnt. Irma Göhring | |
| erzählt, dass er nach vierzehn Monaten in Einzelarrest zu zwei Jahren Haft | |
| verurteilt wurde. Die verbüßte er mit anderen Kommunisten im Nürnberger | |
| Zellenbau. Als er 1936 nicht nach Hause, sondern wieder zurück ins KZ | |
| geschickt wurde, trifft sein Vater der Schlag und er stirbt. | |
| Nach über elf Jahren in Haft wird Göhring im November 1944 als Hilfssoldat | |
| der „Sturmbrigade Dirlewanger“ an die Ostfront geschickt. Bei einem Angriff | |
| gelingt es ihm, sich abzusetzen. In seiner ersten Nacht in Freiheit | |
| scheint, so steht es in seinen veröffentlichten Erinnerungen, der Vollmond | |
| hell auf den Schnee. | |
| Fast unbeschwert sei er am nächsten Morgen durch „Feindesland“ gelaufen, | |
| bis er auf Russen in einem Forsthaus trifft. Von hinten spricht er einen | |
| Soldaten auf Russisch an, der gerade sein Pferd striegelt: „Ich bin | |
| deutscher Soldat und kämpfe nicht.“ Vor Schreck fällt dem Mann die Bürste | |
| aus der Hand. | |
| ## Er zeigte seiner Familie die Höhle | |
| Fortan ist Göhring für Anti-NS-Propaganda zuständig. Mit einem Pferdewagen | |
| karrt er Lautsprecher und einen Plattenspieler an die Front. In den | |
| Weihnachtsnächten fordert er die deutschen Soldaten per Megafon auf: | |
| „Begebt euch in die Gefangenschaft der Roten Armee. Sie garantiert euch die | |
| einzige Möglichkeit zu überleben! Sie garantiert euch eine Behandlung, die | |
| sich an die Regeln der Genfer Friedenskommission hält!“ | |
| In den Wirren des Kriegsendes gerät Göhring selbst in russische | |
| Kriegsgefangenschaft, kann aber, obwohl er gesund ist, mit einem der ersten | |
| Krankentransporte im Oktober 1945 zurück in die Heimat. | |
| „Er kam in mein Büro“, erinnert sich Irma Göhring und errötet. Als | |
| Sachbearbeiterin beriet sie Kriegsheimkehrer. Ihrem zukünftigen Mann wurde | |
| bald vorgeschlagen, beim Fürsorgeamt mitzumachen. Dort kamen sie sich | |
| schnell näher. „Er hat furchtbar schlecht ausgeschaut, ein ganz | |
| rechteckiges Gesicht hat er gehabt. Aber er war mir halt furchtbar | |
| sympathisch und ich ihm scheinbar auch.“ Bereits ein Jahr später heiraten | |
| sie. | |
| Während sich Irma um die beiden Kinder kümmert, wird Göhring Leiter der | |
| Betreuungsstelle. Als er nach München versetzt wird, ist die Sehnsucht nach | |
| der Familie groß. Er wagt noch einmal einen Neuanfang. Als selbstständiger | |
| Lehrmittelhändler liefert er Schulbücher an Landschulen. | |
| Eines Tages, da ist der Sohn schon im Jugendalter, beschließt Göhring, | |
| seiner Familie die Höhle zu zeigen. „Und von da an sind wir dort oft | |
| gewesen“, erzählt Irma Göhring. „So etwas Grausliches!“ Sie schüttelt … | |
| sie ist nie hinuntergeklettert. | |
| ## Als Zeitzeuge berichtete er vor Schulklassen | |
| Die Höhlengeschichte spricht sich herum, und die Familie führt immer wieder | |
| Leute hin. Lehrer hören davon und laden Göhring ein, als Zeitzeuge vor | |
| Schulklassen zu sprechen. Groß bekannt wird die Geschichte aber nicht. | |
| Ihr Mann sei ein „stiller und zurückgezogen lebender Mensch“ gewesen, der | |
| „immer auf Ernsthaftigkeit und Genauigkeit bedacht war“, sagt Irma Göhring. | |
| Während sie mit Frauen der Westdeutschen Frauenbewegung gegen | |
| Wiederaufrüstung und Atomwaffen demonstrierte, engagierte er sich in der | |
| Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. „Er konnte die Finger nicht | |
| davon lassen. Das war sein Leben.“ Mit 89 Jahren starb er. | |
| Die Bäume um das Seniorenheim „Morgenhöhe“ werfen inzwischen lange | |
| Schatten. Irma Göhring ist müde, ihr Kaffee kalt. | |
| Außer ein paar Historikern, Lehrern und Kommunisten weiß heute kaum jemand | |
| von der Höhlendruckerei. Niemand plant, eine Gedenktafel vor der Höhle | |
| aufzustellen. Auch Irma Göhring kann der Idee nichts abgewinnen: „Da kommt | |
| doch kein Mensch vorbei. Man kann nur die Geschichte weitererzählen.“ | |
| 12 May 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Jasmin Siebert | |
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