# taz.de -- Familiengeschichten aus dem NS: Das zerrissene Bild | |
> Ein familiengeschichtliches Duell zwischen Nazi-Großvater und | |
> Künstler-Großonkel: der vielschichtige Debütroman „Flut und Boden“ von | |
> Per Leo. | |
Bild: Bücher über den NS: hier das Reisetagebuch der Jüdin Gisela Rubin | |
Die stärksten Momente dieses vielseitigen Buchs ergeben sich da, wo es | |
seinen Untertitel ins Unrecht setzt und sich dazu bekennt, in Wirklichkeit | |
gar kein „Roman einer Familie“ zu sein. | |
Oder vielmehr, genauer: ein Roman allenfalls im Sinn jener „Lebensromane“ | |
des gleichnamigen Buchs von Michael Rutschky, das nachwies, dass auch ganz | |
prosaische Lebensläufe unwillkürlich narrativen Mustern der | |
Literaturgeschichte folgen. | |
Schon Sigmund Freud war es aufgefallen, dass nicht nur der Dichter | |
fantasiert, sondern auch unsere alltägliche Fantasietätigkeit literarisch | |
funktioniert – im „Familienroman des Neurotikers“ zum Beispiel. | |
Die zentrale Rolle des Romans in unserer Kultur hat viel damit zu tun, dass | |
diese Gattung ein allgemein bekanntes und von vielen Lesern unwillkürlich | |
geteiltes Modell für die Konstruktion von Lebenssinn und Identität | |
bereitstellt. | |
Per Leos Debütroman „Flut und Boden“ – als Historiker ist der 1972 gebor… | |
Autor zuvor mit einer Studie über Ludwig Klages hervorgetreten – | |
organisiert die bewundernswert disparaten autobiografischen, historischen, | |
essayistischen, architekturgeschichtlichen, theologischen und | |
volkskundlichen Materialien seiner Familienrecherche, indem er sie um zwei | |
deutlich romanhafte (und deshalb prägnant erinnerliche) Lebensnarrative | |
gruppiert. | |
## Zwillingshaft aufeinander bezogene Lebensgeschichten | |
Dies sind der heroisch konnotierte „Ritterroman“ seines Nazi-Großvaters | |
Friedrich Leo und der „Künstlerroman“ seines körperlich behinderten und | |
geistig interessierten Großonkels Martin Leo. Diese zwillingshaft | |
aufeinander bezogenen Lebensgeschichten sind eingebettet in die liebevoll | |
und differenziert auserzählte Küstenlandschaft um Bremen herum, wo die | |
Familie der Leos seit Jahrhunderten gelebt hat. | |
Leo erzählt von Bildungsbürgern, die im Verlauf des letzten Jahrhunderts | |
ökonomisch ins Hintertreffen geraten und vom mütterlichen Familienzweig | |
gleichsam geschluckt worden sind. | |
Landschafts- und Bildbeschreibungen, Popsongs, Volkslieder und die | |
Interieurs lang schon bewohnter Häuser skizzieren die atmosphärischen | |
Gefühlswerte dieses Landstrichs zwischen Tiefebene und Nordseeküste mit | |
wenigen, genauen Strichen. Sie eröffnen einen Erinnerungsraum, der in | |
dieser Dichte und Prägnanz in der neueren deutschen Literatur selten ist. | |
Hier entfaltet sich das familiengeschichtliche Duell zwischen dem | |
fehlgeleitet heroischen Lebensentwurf Friedrichs und dem Künstlerroman | |
Martins, dem die Sympathie des Erzählers so deutlich gehört, dass man in | |
Leos Familienroman unschwer den Einfluss desjenigen Siegmund Freuds | |
erkennt. Martin ist der Großvater, den der Erzähler lieber gehabt hätte als | |
Friedrich, seinen leiblichen, tatsächlichen und nationalsozialistischen. | |
## Das vollständig konservierte ostdeutsche Biotop | |
Den Großonkel hat es nach dem Krieg in die DDR verschlagen. Die | |
bildungsbürgerliche Tradition der Familie, deren durch die Mauer besonders | |
vollständig konserviertes ostdeutsches Biotop der Enkel aus dem Westen in | |
einem seiner schönsten Kapitel beschreibt, ist das Familienerbstück, dessen | |
Freilegung und Aneignung das eigentliche Projekt dieses Buches darstellt. | |
Martin ist, wie es zum Künstlerroman gehört, ein unwahrscheinlicher Held. | |
Ernst Kris und Otto Kurz haben in ihrem Buch „Die Legende vom Künstler“ die | |
mühsamen Anfänge analysiert, die unser Fantasieren dem Künstler zuschreibt, | |
die Behinderungen durch Herkunft und Familienhierarchie, über die er dann | |
erst kraft seines Werks triumphiert. | |
Bei Martin sind es der Morbus Bechterew, die Skepsis des deutschnationalen | |
Vaters seinem introvertierten und intellektuellen Ältesten gegenüber und | |
die Sterilisierung des noch ziemlich jungen Mannes durch die | |
nationalsozialistische Medizinalbürokratie. | |
Friedrich, der jüngere Draufgänger, zieht in der Familienhierarchie schnell | |
an Martin vorbei. Wobei ihn in seinem Triumph über seinen stillen älteren | |
Bruder nach 1933 eine mächtige Zeitströmung unterstützt, nämlich die | |
nationalsozialistische „Sozialisierung der Menschen“, die Friedrich zur SS | |
bringt und ihn schließlich bis ins Reichssicherheitshauptamt trägt, in den | |
Umkreis der jungen Männer, die die deutschen Großverbrechen organisierten | |
und deren traurige, grausame und unheimliche Lebensromane die Freiburger | |
Historikerschule analysiert hat. | |
## Stiller Eigensinn statt triumphalischer Widerstand | |
Per Leos knappes und treffendes Porträt ihres Stars Ulrich Herbert, bei dem | |
er studiert hat, gehört zu den gelungensten Passagen des Buchs. Es ist | |
nicht viel, was Martin dieser ein Jahrzehnt lang vor Vitalität, | |
Gewalttätigkeit, Karrieregeilheit, Intelligenz und Faszination sprühenden | |
Jungmännergeneration entgegenzusetzen hat. | |
Nach dem Krieg wird Friedrich dann freilich in eine fast asoziale | |
Obskurität abstürzen. Der Ältere hat unveröffentlichte Aufzeichnungen | |
hinterlassen, aus denen Per Leo zitiert und die ein unabhängiges inneres | |
Leben dokumentieren. | |
Aber sein eigentliches Vermächtnis ist eine Haltung. Ein stiller Eigensinn, | |
wie man ihn aus dem Kapitän-Wakusch-Zyklus Giwi Margwelaschwilis oder aus | |
den Eugen-Rapp-Romanen Hermann Lenz’ kennt und der von 1933 bis 1945 eine | |
viel massenhaftere Erscheinung gewesen sein muss, als uns die | |
triumphalistische Widerstandserzählung der Political Correctness wissen | |
lassen will. | |
Eine Mischung aus Sturheit und Dandyismus. Stoische Ergebung in die | |
Widrigkeiten einer Randexistenz (die gerade jungen Menschen sehr schwer | |
gefallen sein muss). Etwas Unbündisches und Nichtgebundenes. Ein unbeirrtes | |
Interesse an der Wirklichkeit und an einer geistigen Welt, die von den | |
Nazis und ihrem Gedröhne nichts wissen wollte. | |
## Schwäbisch inspirierte Neologismen | |
Auch nach dem Krieg bewahrten sich diese deutschen Menschen etwas, das | |
Hermann Lenz mit dem schwäbisch inspirierten Neologismus „nebendraußen“ | |
bezeichnet hat: „Seine Erscheinung ist ein Muster an Kultiviertheit. Trotz | |
des körperlichen Gebrechens trägt er auch im Ruhestand jeden Tag Anzug und | |
einen breiten Schlips, der so kurz gebunden ist, dass er gerade bis zum | |
Rand der altmodisch überhüftigen Hose reicht. Immer ist er umgeben von | |
Dingen, die ihm Zutritt zum Geistigen ermöglichen: dem selbstgebauten | |
Sonnenfernrohr; Büchern natürlich.“ | |
Es gibt eine Tradition deutscher Bücher über Menschen, deren Leben für die | |
Zwecke der Nazis nicht verwendbar war. Benjamins kommentierte Briefsammlung | |
„Deutsche Menschen“ erforscht ihre Vorgeschichte. | |
W. G. Sebalds Dokumentarfiktionen über das Leben deutscher Ausgewanderter, | |
so literarisch glanzvoll sie sind, verlassen nicht den geistigen Bannkreis | |
der Kritischen Theorie, die den Nationalsozialismus nicht anders sehen kann | |
als im Kontext eines unaufhaltsamen weltgeschichtlichen Verfalls. | |
Per Leos Familienroman dagegen zeigt, dass die Lebensgeschichte und die | |
Hinterlassenschaften eines Menschen, mit dem die Nationalsozialisten nichts | |
anfangen konnten, das Leben eines denkbar zeitgenössischen jungen Mannes im | |
21. Jahrhundert inspirieren kann. | |
„Du darfst Fehler machen“, sagt ihm diese Vergangenheit beispielsweise. | |
„Probier Dinge aus, du lernst immer was dabei. Halt die Klappe, wenn du | |
keine Ahnung hast. Geh auf Menschen zu, vermute bis zum Beweis des | |
Gegenteils nur Gutes von ihnen. Bereise ferne Länder, solange du bei | |
Kräften bist, Deutschland kannst du dir auch als Greis noch ansehen. In | |
einer Welt, in der Arschlöcher Disziplin, Enthaltsamkeit und frugale | |
Ernährung predigen, kann Willensschwäche keine Sünde sein. Und wenn was | |
schiefgeht? Scheiß drauf und fang wieder von vorne an.“ | |
## Ein glanzvoller Nachzügler des Lebensromans | |
Per Leos Familienroman überwindet eine gewisse Fixiertheit auf den Abscheu, | |
der viele seiner Vorgänger prägt. Nicht einmal die Beschreibung seines | |
SS-Großvaters, der nach 1945 verbittert und am Rand der sozialen | |
Verwahrlosung in der Lüneburger Heide herumvegetiert, lässt die Einfühlung | |
vermissen, die ernstzunehmende Literatur auch denjenigen ihrer Figuren | |
nicht versagt, die ihren Intentionen am wenigsten sympathisch sind. | |
Martin ist ohne Friedrich nicht denkbar. „Ich musste erst sein Leben neben | |
das meines Großvaters legen, um festzustellen, dass die beiden für mich | |
zusammengehören wie zwei Hälften eines zerrissenen Bildes. Von diesem | |
Moment an waren Großvater und sein ältester Bruder in meinem Kopf ein | |
unzertrennliches Paar. | |
Ich konnte mir den einen, in dessen Nähe ich aufgewachsen bin, nicht mehr | |
vorstellen ohne den anderen, den ich kaum kannte. Und als ich das auch gar | |
nicht mehr wollte, gab es plötzlich auch etwas zu erzählen.“ | |
Das seit 2003 in Mode gekommene deutsche Erzählen über den Einfluss der | |
Nazizeit auf das Familienleben hat sehr viele Bücher und eine ausgedehnte | |
literaturwissenschaftliche Cottage Industry hervorgebracht. Man hat | |
neuerdings einen gewissen Überdruss an diesem Genre formuliert. | |
Ein glanzvoller Nachzügler wie Per Leos „The Making of a Nazienkel“ (wie | |
eine Kapitelüberschrift lautet) beweist jedoch, dass die neuen deutschen | |
Familienromane eine lebendige, kraftvolle und gegenwartsrelevante Gattung | |
sind. Der Lebensroman der Bundesrepublik, scheint es, ist noch lange nicht | |
zu Ende geschrieben. | |
23 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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