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# taz.de -- Sepp Bierbichlers Geschichte vom Seewirt: Und draußen vor der gro�…
> Katholizismus, Nationalsozialismus, bayrischer Anarchismus - der
> Schauspieler Sepp Bierbichler erzählt sprachmächtig die Geschichte des
> "Seewirts" vom Starnberger See.
Bild: Wer bin ich, woher komme ich und wer muss ich sein? Zentrale Themen bei S…
Wer bin ich, woher komme ich und wer muss ich sein? Ungewolltes Erbe und
gottgegebene Tradition - das sind die zentralen Themen von Josef
Bierbichlers Roman "Mittelreich". Bierbichler erzählt eine Geschichte aus
der Voralpenregion nahe der bayrischen Landeshauptstadt. Es ist wohl
teilweise die seine, die seiner Eltern und Großeltern, die in Ambach am
Starnberger See eine Landwirtschaft und das Wirtshaus Zum Fischmeister
betrieben. Nach der Lektüre ist man geneigt zu sagen: Seit Oskar Maria Graf
hat - mit Ausnahme von Wolf Haas, aber der ist ja Österreicher - kaum ein
Gegenwartsautor das Ambivalente des katholisch-ländlichen Alpenraums besser
beschrieben. Das Schroffe, das Devote, das Brutale und das Liebenswürdige.
Bierbichler erzählt von drei Generationen, von denen die ersten beiden in
zwei Weltkriege marschierten. Von einem Land, das gegen Ende des 19.
Jahrhunderts zunehmend von der Moderne erfasst, neu durchmischt wurde und
das die Katastrophe des "Dritten Reichs" durchlebte, oft in strammer
Anhängerschaft zum Führer.
##
Katholen-Saga mit Hermaphroditen
Bierbichler bietet für seine Katholen-Saga einiges an Personal auf:
Monarchisten, Nationalsozialisten, bayrische Dickschädel, reiche
Sommerfrischler, arme Flüchtlinge, Deserteure, Zwangsarbeiter und
Hermaphroditen. Und was vom stolzen Patriarchen nach 1945 zurückkehrte, in
"Mittelreich" ist es beim Seewirt eine Mischung aus Depression und
weinerlicher Aggression. Des Seewirts Kinder werden aufs katholische
Internat gezwungen, wo einer der Buben, im Roman Semi genannt, vom Pater
sexuell missbraucht wird. Bierbichler schildert dies als Teil des Alltags
im Internat, wovon die Seewirts-Eltern nichts hören wollen. Und er
schildert weiterhin die fortschreitende Entfremdung der nach dem Krieg
geborenen Generation von Eltern und früheren Autoritäten, den Riss, der
durch die Familien in den 1960er Jahren ging.
Etwas weiter oberhalb am Starnberger See, in Berg, war Oskar Maria Graf
1911 noch durchs Fenster geklettert, um den Schlägen seines Bruders und der
Bäckerlehre in Richtung Münchner Freiheit zu entkommen. Ein halbes
Jahrhundert später ließ sich die Liberalisierung des Lebens auch auf dem
Lande nicht mehr aufhalten. Die Zeiten ändern sich, und wie, das beschreibt
der Schriftsteller Bierbichler mit großer sprachlicher Intensität und einer
Leidenschaft für die Schicksale gerade der einfachen Leute, ohne diese
dabei zu verklären. Vieles ist böse und bleibt es auch, gerade so man
sucht, es zu verstehen.
Sprachlich ist der Roman ein Genuss. Er ist ohne populistischen Unterton
nahe am Mündlichen und Dialekt gebaut. Sepp Bierbichler versteht etwas von
Dramatik und Szenenfolge. Sein Erzählen erweist sich als geschichtsmächtig,
Perspektiv- und Tempowechsel sorgen für Spannungswechsel und zeigen eine
sehr vielstimmige Gesellschaft.
Vieles klingt grotesk, manches skurril, und einiges geht an die Grenze
dessen, was man bis heute hören möchte. Der 1948 geborene Autor Bierbichler
wurde selber ins Internat geschickt. Wie autobiografisch er seine Figuren
im Roman angelegt hat, darüber rätseln nun viele. Im Buch offenbart sich
der missbrauchte Semi der Mutter, die dem Jungen aber nicht helfen kann:
Das von ihm Behauptete liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Und von dem
in sich gekehrten Vater, der nach Krieg und Nationalsozialismus zum
Frömmlertum neigte, hat die Romanfigur Semi in den 1950er und 60er Jahren
erst recht keine Hilfe zu erwarten.
##
Wenn der Sturm über den See hinwegfegt
Ein Bauernhof und eine Seewirtschaft - draußen vor der großen Stadt -, die
Kulisse erweist sich in "Mittelreich" als idealer Ort, um die Menschen und
ihre Gesellschaft einzufangen und zu charakterisieren. Expressionistisch
ausschweifend dabei jene Szene, in der die Urgewalt des Sturms über den
zugefrorenen See fegt und das Dach der Seewirtschaft in der Nacht
fortzureißen droht, während eine morbid-dekadente Faschingsgesellschaft ein
frivoles Festchen mit Hitlerbärtchen feiert.
Großen Raum gibt der Erzähler Bierbichler auch den Knechten der
Weltgeschichte. Oft wurden sie tatsächlich zum festen Teil patriarchal
gesteuerter Großfamilien. Auf der Internetseite des Wirtshauses Zum
Fischmeister steht heute zur wirklichen Geschichte des Hauses vermerkt:
"Ende des achtzehnten Jahrhunderts übergab der letzte Fischmeister dieses
Namens nicht an seine beiden Söhne, sondern an seinen Knecht, namens Johann
Castulus Bierbichler."
So kam also die tatsächliche Familie des Autors Bierbichler zu einem Erbe,
das, folgt man dem Roman, so geliebt nicht immer war. Schon die von
Bierbichler fiktional in Szene gesetzten älteren Seewirte hörten gern Opern
(Wagner und Italiener). Sie stehen in "Mittelreich" öfter singend am Ufer
in dunkler Nacht, mussten ihre Leidenschaft für das Künstlerische aber eher
auf den Kirchenchor begrenzen.
Es dürfte Sepp Bierbichler etwas Kraft gekostet haben, in Ambach weiterhin
zu leben, über den Starnberger See auf die Zugspitze zu schauen und diesen
Roman zu schreiben. Doch er verachtet nicht, woher er kommt, und auch die
Figuren des Romans bleiben Teil des sich verändernden Ganzen. An einer
Stelle im Mittelteil des Romans steigt der bäuerliche Mensch, ohne zu
Zögern, in eine ekelhafte Güllegrube hinab, um ein junges Entlein zu
retten, "und alle Kinder des Hauses waren da". Kurz darauf wird das gerade
geborgene Entlein von den Anwesenden verspeist. Das naturnähere Leben -
Bierbichler beschreibt es, ohne es zu verdammen.
Einige Kritiker behaupten nun, der berühmte Schauspieler habe seinen Roman
"mit Blut" geschrieben. Und sie brüsten sich damit, zu wissen, wie der
frühere Hund des Bierbichlers geheißen habe. Doch das mit dem Blut ist
unsinnig und das mit dem Hund unwichtig. Bierbichler ist kein
Heimatdichter, und um sein Buch zu verstehen, bedarf es keinerlei Kenntnis
seiner tatsächlichen Biografie. Dazu ist ihm die dialektgefärbte
Fiktionalisierung mitsamt der nüchternen Analyse zu gut gelungen.
"Mittelreich" ist die geglückte literarische Auseinandersetzung mit dem
ländlichen Katholizismus, mit einem Erbe, vor dem manche bis heute
davonlaufen - das man aber auch wie im Falle Bierbichler annehmen kann, um
es umzupflügen.
## "Mittelreich". Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 392 Seiten, 24,90 Euro
## "Josef Bierbichler liest Mittelreich". DAV, 2011. Box mit 10 CDs,
produziert von Bayern2
13 Oct 2011
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
Theatertreffen Berlin
Familie
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