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# taz.de -- Theatertreffen Berlin: Als Effi zur Emanze wurde
> Mit Musik durch die Zeit reisen: Das beherrschen die Regisseure des
> Theatertreffens. Da muss sich Effi Briest schon mal mit Chauvi-Witzen
> herumschlagen.
Bild: Können Sie uns hören? Hier ist Radio Effi Briest mit Michael Wittenborn…
In einem Film von Éric Rohmer, „Sommer“ von 1996, kann sich ein junger Mann
in seinen Ferien in der Bretagne nicht zwischen drei Frauen entscheiden. Am
Ende entzieht er sich den Verwirrungen des Gefühlslebens und reist ab, um
günstig ein 8-Spur-Tonband zu kaufen. Das Tüfteln am Gerät scheint
einfacher als das Tüfteln an Leib und Seelen der jungen Frauen. Und die
Gedanken darüber, warum das andere so schwer ist, formen sich wiederum im
Chanson.
Musik als Ersatzhandlung; gemeinsam Schallplatten hören, wo die Worte
versagen, um das Geflecht der Spannungen aufzudröseln; dem Verstummen mit
herzzerreißenden Klängen begegnen – das verbindet die Regisseurin
Anna-Sophie Mahler mit dem Regieteam Clemens Sienknecht und Barbara Bürk.
Von ihnen stammten die zuletzt gespielten Produktionen auf dem Berliner
Theatertreffen.
Beide Male ging es um Romantexte: Anna-Sophie Mahler kam von den
Kammerspielen München mit „Mittelreich“, nach einem Roman von Josef
Bierbichler; Sienknecht und Bürk vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg mit
„Effi Briest“ – allerdings mit anderem Text und anderer Melodie. Sich mit
Kunstliedern und Songs zurückzubewegen in der Zeit und entfernt liegende
gesellschaftliche Räume ganz leicht aufzuschließen, das beherrschen sie
alle.
Eine Musiktruhe (die erste von Grundig mit Radio und Schallplattenspieler)
schafft der Seewirt an in „Mittelreich“. Es ist die Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg, Ausgebombte und Vertriebene sind statt der Sommergäste
einquartiert. Eben hörte man von der Vergewaltigung eines Mädchens durch
russische Soldaten in einer Textpassage, die, was sie beschreibt,
gleichzeitig fernhält durch das Gesetzte, Vorsichtige der Sprache. Damian
Rebgetz, dessen Deutsch einen leichten Akzent hat, spricht, als liefen die
Wörter auf Zehenspitzen durch ein Minenfeld.
## Pause gegenüber der Mühsal
Der unterdrückte Schrecken ist noch gegenwärtig, die Spannung noch nicht
gelöst, als Stefan Merki in der Rolle des Wirts die Truhe hereinträgt.
Seine Frau Theres (Annette Paulmann) fällt ihm um den Hals, auch wegen der
mitgebrachten Schallplattenaufnahmen klassischer Musik. Dazu die Liebe zu
teilen verschafft ihnen beiden eine Pause gegenüber der Mühsal und dem
Zweifeln: dass man das Leben, das man führt, nicht selbst gewählt zu haben
scheint; dass man hineingestellt wurde von seinen Vorgängern.
Was an Textpassagen ausgewählt ist aus dem Roman von Josef Bierbichler,
erzählt vom Seewirt selbst, von Theres, ihrem Sohn sowie einem
hermaphroditischen Kinderfräulein und umfasst einen großen Zeitraum. Motive
kehren wieder, wie etwa die ersehnte und nie bestätigte Anerkennung der
elterlichen Liebe. Nach und nach zeichnen sich immer mehr Beschränkungen
und Verhinderungen ab, die fast jede Figur an einen Platz binden, der sie
unglücklich macht. Diese verhakelten Beziehungen, diese verengten
Aussichten (eingesperrt in einen Bühnenraum wie in den Hof des Seewirts)
sind aber durch die Musik gerahmt in die Möglichkeit einer Öffnung.
Am Anfang ist es ein Requiem von Brahms, gesungen von einem Chor des Jungen
Vokalensembles München, das den Raum zwischen Himmel und Grab weit
aufreißt. Obwohl sich die Inszenierung einerseits im Verlauf der Aufführung
von diesem emportragenden Anfang entfernt, läuft sie andererseits wieder
darauf zu. Denn das musikalische Requiem gehörte zu der Trauerfeier für den
gestorbenen Seewirt, den wir dann über viele Jahrzehnte auf diesen Punkt
zusteuern sehen.
## Die Songs wissen vom Schmerz
Die Inszenierung „Mittelreich“ ist stets von Trauer grundiert. Pfiffigkeit
und eine große Lust an der sehr trockenen Ironie von Theodor Fontane ist
dagegen der Grund, auf dem Clemens Sienknecht und Barbara Bürk ihre „Effi
Briest“ erfinden. Das nostalgische Ambiente (halb ein mit vielen Stehlampen
zu vorsichtigen Bewegungen ermahnendes Wohnzimmer, halb ein mit vielen
Instrumenten vollgestelltes Tonstudio) blendet dabei in eine Zeit zurück,
als man in den sechziger, siebziger Jahren den Roman Fontanes als Drama
einer verhinderten Emanzipation wiederentdeckte.
Es spielen eine Frau, Ute Hannig, und fünf Männer. Sie übernimmt immer den
O-Ton von Effi, die anderen spielen neben den Männerrollen auch die Rollen
ihrer Mutter und ihrer Freundinnen, stets mit einer gewissen Schadenfreude
an den Stilisierungen des Weiblichen. Ute Hannig, im Übrigen eine
wunderbare Sängerin, ist also für Effi stets auch mit der Liebe einer Frau
zu dieser Figur zuständig, die sie gegen einen leicht spöttischen
Männerclub verteidigen muss. Das macht, durch alle Witze hindurch, eine
große Verletzbarkeit aus; das Lustige aber packt einen zuerst.
Die Romanerzählung ist doppelt verpackt: Das eine Setting ist das einer
Familie, die andächtig um einen Plattenspieler herumsitzt und hört, wie
Gert Westphal, schon vor Jahrzehnten der „König der Vorleser“ genannt, sich
gemächlich und mit spürbarem Vergnügen durch Fontanes Text bewegt. Das
zweite Setting ist ein Radiostudio, der Sender „Effi Briest“, der mit
vielen Jingles und Oldies durch eine Nacht führt und Kapitel von Effi
dazwischenschiebt. Die Songs aber, die gesungen werden, von den Beach Boys,
James Brown, den Rolling Stones oder Frank Sinatra, erzählen die Situation
stets weiter. Was an Sehnsucht, an mangelndem Leben, an Eifersucht,
Misstrauen und Schmerz in den Figuren arbeitet, davon wissen die Songs eben
viel, auch wenn sie aus einem ganz anderen kulturellen Kontext stammen.
Sehr genau musikalisch durchdacht ist dabei der Wechsel von Text und Musik.
Und doch ist die Präzision getarnt hinter einem Kokettieren mit dem
Nichtperfekten, den Fehlern im Ablauf, den Missverständnissen zwischen
Mensch und Technik.
## Müdigkeit, Coolness und Abgeklärtheit
Das kauzige Outfit der ganzen Inszenierung hat etwas von liebevoller
Tarnung. So wie Michael Wittenborn, in Jeans und Weste, am Mikrofon des
Night-Talkers hängt, eine Mischung aus Müdigkeit, Coolness und
Abgeklärtheit, und dann doch genau zu sehen scheint, was in Effi vorgeht.
Eigentlich geht es allen um das Mitgefühl mit dieser Frau, die in die
falsche Ehe gebracht, langsam verkümmert.
Anna-Sophie Mahler war Assistentin beim Schweizer Regisseur Christoph
Marthaler, in dessen Inszenierungen Clemens Sienknecht seit Anfang der
1990er Jahre als Pianist und Schauspieler dabei war. Sicher haben beide
viel von ihm gelernt, was das Ineinanderdenken von Sprache und Musik
angeht, aber das macht nur einen Teil ihrer Nähe aus. Verwandt sind sie
sich auch in der Eigenwilligkeit einer Ästhetik, die sich einen eigenen Ort
schafft, an dem vieles aufgehoben ist, das im Leben so leicht unter die
Räder kommt.
Das Theater erfindet sich in ihnen nicht neu und sprengt auch keine
Grenzen. Es holt stattdessen das Bestmögliche aus dem raus, was innerhalb
der Beschränkung geht. Für das Theatertreffen war das ein guter und
treffender Schlusspunkt.
22 May 2016
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Theatertreffen Berlin
Josef Bierbichler
Der Ring des Nibelungen
Theodor Fontane
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Theodor Fontane
David Foster Wallace
Theatertreffen Berlin
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