Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Theaterregisseurin Anna-Sophie Mahler: Ausbrechen aus dem System
> Eine der Newcomerinnen des diesjährigen Berliner Theatertreffens ist
> Anna-Sophie Mahler. Ein Gespräch mit der Regisseurin.
Bild: Unaffektiert, herzlich, ausgeglichen: Anna-Sophie Mahler
Wer sich an einen Roman wie „Mittelreich“ von Josef Bierbichler wagt, ein
fast 400 Seiten langes Epos über eine Gastwirtsfamilie in der bayerischen
Provinz, muss Mut haben. Den hat Anna-Sophie Mahler zweifellos. Denn mit
ihrer Adaption der Familiensaga für die Münchner Kammerspiele ist ihr eine
überzeugende Inszenierung gelungen, die nun beim Berliner Theatertreffen
gastiert.
„Mittelreich“ ist eine Produktion, die ebenso ungewöhnlich wie
charakteristisch für Mahlers Regiestil ist. Neu, weil Anna-Sophie Mahler
zuvor nie mit Romanadaptionen in Erscheinung trat, sondern mit
Musiktheater-Inszenierungen reüssierte.
Typisch, weil sie sich den Stoff wie oft über Musik aneignet. In der
Bierbichler-Umsetzung bildet Brahms’ „Ein deutsches Requiem“ den Rahmen
dieses strengen Kammerspiels. Mahler beschreibt die werkgetreue Abfolge der
Komposition als Korsett, das sie sich während des Probenprozesses
auferlege: „Ich kann darin wieder anfangen zu denken.“
## Der Mensch als Feindbild
Die 37-Jährige sitzt hochschwanger in einem Café in ihrer Wahlheimat
Zürich, in die sie vor vier Jahren aus privaten Gründen kam – ihr Freund,
der Komponist und Pianist Stefan Wirth, lebte hier. Im Gespräch erweist
sich Mahler sofort an als eine offene Person. Unaffektiert, herzlich,
ausgeglichen.
Mit Zürich verbindet Mahler aber mehr als nur die Liebe. 14 Jahre ist es
her, dass sie dort als Assistentin von Christoph Marthaler, damals Leiter
des Schauspielhauses, war. In der Schweizer Theaterszene ist Mahler seither
zu Hause. 2013 hat sie etwa „Tristan und Isolde“ bei den Zürcher
Festspielen inszeniert.
Ob sie ihren jetzigen Wohnort mag? Ja, schon. Aber „der Reichtum macht viel
kaputt“, sagt sie. Aber das Publikum in Zürich sei nicht so
experimentierfreudig wie in Berlin, wo sie zuvor lebte: „Einen
24-Stunden-Theatermarathon wie in Berlin könntest du hier nicht machen.“
1979 in Kassel geboren, wächst Mahler in einem unkonventionellen und
offenen Elternhaus auf – und zwar in einer alten Mühle im hessischen
3.300-Seelen-Dorf Morschen: „Ich bin in einem Kunstwerk groß geworden“,
sagt sie über dieses Domizil.
Mahlers Eltern sind Psychoanalytiker, ihr Vater Eugen Mahler gründet mit
Kollegen 1978 das Alexander-Mitscherlich-Institut. Nachts malt er, „im
Stile Jackson Pollocks“. Ihre Kindheit verbringt Mahler viel am Wasser, an
Flüssen und Seen. Die Ferien verbringt die Familie manchmal wochenlang in
einer Hütte in einem Wald, ohne Strom und fließendes Wasser. Diese
Naturwelt sei ihr immer sehr nahe gewesen: „Ich hatte den Mensch als eine
Art Feindbild im Kopf, der alles kaputtmacht.“
1998 verlässt sie Hessen, zieht nach Berlin, um zu erkunden, was sie mit
ihrem Leben machen will. Ein Jahr lang dauert diese Phase, durchtanzte
Tangonächte inklusive. Dann beginnt sie ein Regiestudium an der Hochschule
für Musik Hanns Eisler. Der Zugang über die Musik ist für sie bis heute
zentral: „Ich verstehe Musiker oft besser als Schauspieler.“
Während des Studiums lernt sie einen Assistenten Marthalers kennen. Eine
Hospitanz für „Die Schöne Müllerin“ folgt. Ein Sprung ins kalte Wasser: …
der Hochschule drehte sich alles um das Regiekonzept, „bei Marthaler gab es
scheinbar gar kein Konzept. Außer, dass man gut isst.“
Mahler findet in ihm einen Mentor, lernt in den Proben zu seinen stets
musikalisch strukturierten Inszenierungen viel für ihren eigenen Regiestil:
„Mal kam er mit irgendwelchen Zettelchen.“ Dann raunt er ihr zu, dass er
„ganz viel tolles Fleisch fürs Abendessen gekauft habe“, und schaute
zwischendurch mal rein.
So entstanden ganze Theaterabende – und obwohl sie immer dabei war, habe
sie fast nicht mitgekriegt, wie das passierte: „Er hat das natürlich genau
komponiert, aber er war nie ein Regisseur, der große Ansagen machte.“ Was
sie aus dieser Zeit mitnahm und was sie bis heute prägt: „Ich musste selber
lernen, wie ich es für mich mache.“ Und: „Von Marthaler hört man nie ein
Nein, das will ich so nicht. Das machte es manchmal natürlich auch nicht
leichter.“
Auch die Arbeit mit Christoph Schlingensief prägte sie. Sie begleitete sein
Team nach Brasilien, an den Amazonas. Am eindrücklichsten war ein Erlebnis
in der Abenddämmerung auf dem großen Fluss, wo sie für die Opernaufführung
des „Fliegenden Holländers“ drehten: „Diese Verbindung von Naturerlebnis
und Wagners Musik werde ich wohl nie vergessen.“
Ohne diese prägenden Persönlichkeiten wäre ihre Karriere anders verlaufen.
Heute, sagt sie, sei sie keine Regisseurin, die auf den Tisch haut: „Ich
versuche immer, einen gemeinsamen Konsens zu finden. Ich werde selten
wütend.“
## Die eigene Scheiße
Matthias Lilienthal, der sie erstmals an die Kammerspiele in München holte,
begleitet ihre künstlerische Arbeit ebenfalls bereits seit zwölf Jahren.
„Jetzt mach mal deine eigene Scheiße“, habe er einmal zu ihr gesagt. Was
Mahler dabei unterstützte, 2006 ihre eigene Gruppe „CapriConnection“ zu
gründen.
Der Ansatz vieler Produktionen dieses Kollektivs ist dokumentarisch. Für
das Stück „Tote Fliegen verderben gute Salben“, eine der ersten Arbeiten
der Gruppe, sprach sie etwa mit schizophrenen Patienten in der Berliner
Charité über Welt- und Gedankensysteme.
Für „Urknall“ diskutiert sie mit Physiker am Kernforschungsinstitut Cern.
Mahler will so aus dem Theatersystem ausbrechen: „Sonst verliert man den
Kontakt zum Leben und bleibt von gleichen Sichtweisen umgeben.“ Ähnlich der
Ansatz für eine Inszenierung von „Francesa da Rimini“ in München 2015, f�…
das sie inhaftierte Frauen interviewte.
Nach dem Theatertreffen hat für Mahler das Privatleben Vorrang, sie
verschiebt zwei Produktionen. Bald kommt das Baby auf die Welt; sie plant
ein Jahr Elternzeit. Der erste Sohn ist inzwischen drei. Geht das,
Mutterschaft und Regiearbeit? Na klar: „Ich hatte vorher schon Bedenken, ob
das klappt mit Kind. Aber es funktioniert.“ Mit ein bisschen Mut, möchte
man meinen.
10 May 2016
## AUTOREN
Annette Walter
## TAGS
Theatertreffen Berlin
Josef Bierbichler
Theater
Theatertreffen Berlin
Josef Bierbichler
Theatertreffen Berlin
Theatertreffen Berlin
Brasilien
Theatertreffen Berlin
Theatertreffen Berlin
Oskar Roehler
Schwerpunkt 1968
## ARTIKEL ZUM THEMA
Uraufführung Schauspiel Leipzig: Black Box im White Cube
In Leipzig wurde „Eriopis“ von der finnischen Autorin E.L. Karhu
uraufgeführt. Doch die Hauptfigur bekommt man nicht richtig zu fassen.
Berliner Theatertreffen: Die Kopie und ihr Mehrwert
An den Kammerspielen München ließ Anta Helena Recke „Mittelreich“ in neuer
Besetzung spielen, diesmal von Schwarzen Deutschen.
Josef Bierbichlers andere Art Heimatfilm: Einmal quer durchs 20. Jahrhundert
„Zwei Herren im Anzug“ ist die zweite Regiearbeit des Schauspielers Josef
Bierbichler. Sie ist von einer herrlich sperrigen Künstlichkeit.
Theatertreffen Berlin: Als Effi zur Emanze wurde
Mit Musik durch die Zeit reisen: Das beherrschen die Regisseure des
Theatertreffens. Da muss sich Effi Briest schon mal mit Chauvi-Witzen
herumschlagen.
Theater und Wirklichkeit: But Is That Art?
Die Grenzen zwischen Theater und Wirklichkeit werden neu verhandelt.
Zwischenruf und Fragen eines Juroren vom Theatertreffen in Berlin.
Regierungskrise in Brasilien: Machtwechsel ohne Wahl
Der Senat beschließt das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma
Rousseff. An ihre Stelle rückt nun der bisherige Vize Michel Temer.
Theatertreffen Berlin: Plötzlich steht alles in Frage
Die Relevanz des Theaters stand in der letzten Saison besonders auf dem
Prüfstand. Davon erzählt ein Juror des Theatertreffens.
Porträt des Regisseurs Simon Stone: Der Theaterstrauchdieb
Simon Stone kommt erstmals zum Theatertreffen nach Berlin. Der dezidierte
Kinonerd arbeitet mit einer hart geschnittenen Bildwelt.
Ersan Mondtag am Schauspiel Frankfurt: Zehn Intendanten riefen an
Im Grenzbereich zwischen Theater und bildender Kunst: Der junge Regisseur
Ersan Mondtag inszeniert in Frankfurt „Der alte Affe Angst“.
Interview mit Dietrich Lehmann: „Kinder sind so ein tolles Publikum“
Als „Linie 1“ vor 30 Jahren startete, war Dietrich Lehmann schon lange am
Grips Theater. Ans Aufhören denkt er immer noch nicht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.