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# taz.de -- Theater und Wirklichkeit: But Is That Art?
> Die Grenzen zwischen Theater und Wirklichkeit werden neu verhandelt.
> Zwischenruf und Fragen eines Juroren vom Theatertreffen in Berlin.
Bild: Reflexionsmedium oder Interventionsinstrument?
„Der Bericht über die vergangene Spielzeit ist ein Bericht über die
Unsicherheit, die plötzlich viele Theater erfasst hat. Der Verunsicherung
von außen, die die vorletzte Spielzeit prägte, folgte die Unsicherheit von
innen. Die Fragen: was das Theater überhaupt noch sei, wohin es gehe, ob es
noch eine Zukunft habe und welche, drängten sich seit Langem nicht mehr so
schmerzhaft auf.“ Das klingt wie ein Kommentar zu den laufenden
Theaterdebatten angesichts des erhöhten Wirklichkeitsdrucks in Zeiten von
Rechtspopulismus und Migrationsbewegungen.
Wenn draußen Pegida aufmarschiert oder Geflüchtete nicht wissen, ob sie in
„sichere Herkunftsländer“ abgeschoben werden, wirkt der Schutzraum des
Theaters etwas irreal. Doch die eingangs zitierte Krisendiagnose stammt von
Günther Rühle. Erschienen ist sie 1979 im Jahrbuch der Zeitschrift Theater
heute. Die Frage, wie das Theater im eigenen Medium, also mit Kunst und
nicht als Fortsetzung von Talkshows mit anderen Mitteln, auf
gesellschaftliche Krisen, Umbruchsituationen reagieren könnte, ist alles
andere als neu.
Mit der „Verunsicherung von außen“ meinte Rühle 1979 die Anschläge der R…
und die staatlichen Reaktionen darauf. Das waren, nicht nur weil
Rechtsradikale inzwischen sehr viel mehr Menschen ermordet haben als die
RAF, vergleichsweise harmlose gesellschaftliche Herausforderungen. Die
heute wieder diskutierte Selbstverunsicherung – was soll das Theater
angesichts der gesellschaftlichen Krisen – gehört offenbar schon länger zum
Standardrepertoire.
Das kann man etwas narzisstisch finden, als sei das Wichtigste zum Beispiel
an Terroranschlägen oder an Pegida die Frage, was das für die Zukunft des
Theaters bedeuten könnte. Aber vielleicht braucht das Theater diese
Selbstverunsicherung einfach als Impuls: Es benutzt sie als Irritation, um
in Kontakt mit der Gesellschaft zu bleiben. Dirk Baecker nennt das den
„Nutzen ungelöster Probleme“. Solange dem Theater die ungelösten Probleme,
die gesellschaftlichen Krisen und deren Effekte in Form von
Selbstverunsicherung nicht ausgehen, muss man sich um das Theater keine
Sorgen machen.
Rühles Frage, „was das Theater überhaupt sei“, führt in der Regel wieder
zu: Theater. Und nicht etwa dazu, den Betrieb wegen Sinnlosigkeit
einzustellen. Im besten Fall tragen die genutzten Irritationen dazu bei,
dass das Theater nicht dümmer wird als der Rest der Gesellschaft. Natürlich
wird auch die ausgestellte Irritation zur Konvention.
Vor einem Jahr, in Nicolas Steemanns Hamburger Inszenierung der
„Schutzbefohlenen“, war der Einbruch der Wirklichkeit (in Form von
afrikanischen Geflüchteten) in den geschlossenen Kunstraum eine klug
gesetzte Störung der Spielroutine (die stellvertretend für die Routine der
Mehrheitsgesellschaft im Zuschauerraum wie außerhalb des Theaters stand).
## Krisen sichern Aufmerksamkeit
Heute kann das als effektbewusst eingesetztes Stilmittel verwendet werden,
das trendorientiert Problembewusstsein auf der Höhe der Zeit signalisiert,
ohne den Kunstgenuss zu stören oder irgendjemandem die Stimmung zu
verderben. Der Verweis auf aktuelle Krisen sichert als
Relevanz-Ausrufezeichen noch den harmlosesten Inszenierungen
Aufmerksamkeit.
Derzeit sind zwei Extremantworten auf Rühles Frage, was das Theater
angesichts der neuen Krisen sei, zu erkennen. Die erste Möglichkeit wäre,
im abgedichteten Kunstraum einfach so zu tun, als sei nichts geschehen, und
ungestört weiter mehr oder weniger schöne Kunst zu machen. Dass das
politisch, moralisch, aber auch künstlerisch etwas ignorant und zynisch
wäre, scheint unmittelbar einleuchtend.
Angesichts der Not der Geflüchteten und einer neuen Rechten mit
zweistelligen Wahlergebnissen möchte man schon aus hygienischen Gründen ein
paar Minimalstandards an Demokratie, Menschenwürde und Freude an Diversität
verteidigen. Die Frage ist, wie das mit Mitteln der Kunst geht und ob Kunst
überhaupt ein Mittel sein sollte.
## Die Welt war kein besserer Ort
Was Europäer für einen Ausnahmezustand halten, ist in vielen Teilen der
Welt der Normalzustand. Für die meisten Menschen war die Welt vor fünf oder
50 Jahren kein besserer Ort. Was sich geändert hat, ist, dass wir nicht
mehr so gut wegschauen können, seit syrische und afghanische
Bürgerkriegsflüchtlinge nach Europa kommen. Hätte man deshalb in den
letzten fünf oder 50 Jahren kein Theater machen sollen? Und wem wäre damit
geholfen?
Produktiver als die große und nicht ganz uneitle Geste des Selbstzweifels
(wie kann man angesichts solcher Verhältnisse noch Kunst machen), ist es,
genau diese Konflikte im geschlossenen Kunstraum zu verhandeln, möglichst
perspektivreicher und widersprüchlicher, als das in allen anderen Medien
möglich ist. Die großen historischen Echoräume „aktueller“ Konflikte zei…
zum Beispiel Michael Thalheimer in seiner Wiener Inszenierung von Jelineks
„Schutzbefohlenen“: Die Frage nach der Mitleidfähigkeit ist hier in die
Form der antiken Tragödie übersetzt, deren Kern bekanntlich Furcht und
Mitleid sind.
Die andere Möglichkeit ist die Auflösung der Kunst in die soziale Praxis.
Sie hat derzeit Konjunktur, nicht nur in Münchner
Shabby-Shabby-Erlebnisangeboten oder Open Boarder Congressen. Der Soziologe
Oliver Machart beschreibt das Muster mit all seine Fragwürdigkeiten und
Euphorien an einem historischen Beispiel: „Am 15. Mai 1968 um elf Uhr
abends stürmt eine Menge von Protestierenden das Pariser Theater Odéon. Das
Publikum der Abendvorstellung hat das Haus gerade verlassen.
## Gegen bürgerliche Kultur
Die Protestierenden informieren den Direktor Jean-Louis Barrault, eine
Legende des Avantgardetheaters, dass von nun an die Institution besetzt
sei, repräsentiere sie doch eine elitäre und bourgeoise Vorstellung von
Kultur und müsse in ein Zentrum der Revolution verwandelt werden.
Dramatisches, theatrales Handeln, das heißt Schauspielen findet nicht mehr
statt. Das Odéon wird zu einem öffentlichen Raum, in dem die vierte Wand
zwischen Akteuren und Publikum niedergerissen ist und jedem/r erlaubt wird,
frei zu sprechen. In einem Kommuniqué hieß es: „Die Aktion richtet sich
gegen eine bürgerliche Kultur und ihre theatrale Repräsentation.“
Stattdessen solle das Theater zu einem „Ort des ununterbrochenen Meetings“
werden. Das ist die Beschreibung eines revolutionären Karnevals. Die auch
heute wieder gern benutzten Vokabeln klangen schon 1968 etwas zu pompös.
Jean Genet fand die Besetzung des Odéon albern: Die Aktivisten hätten
lieber ein Ministerium besetzen sollen. Die Zweckentfremdung des Theaters
gleicht einem Bilderverbot: Kunst soll durch soziale Praxis ersetzt werden,
auch wenn diese weitgehend selbstreferenziell bleibt.
Viele der derzeitigen Diskussionen arbeiten sich an der Frage ab, ob
Theater ein Reflexionsmedium ist oder zum Interventionsinstrument werden
soll. Aber auch politisches Theater als Feier einer Gesinnungsgemeinschaft
– intelligent bei Falk Richter, eindimensional bei Volker Lösch – ersetzt
keine Anti-AfD-Demonstration. Selbst die ausstrahlungsstärksten Aktionen
des politischen Theaters der letzten Jahre, „Die Toten kommen“ und die
entwendeten Mauerkreuze des Zentrums für Politische Schönheit, waren so
wirkungsvoll, weil sie Konflikte symbolisch verdichteten – und nicht etwa,
weil vor dem Reichstag der Rasen beschädigt wurde.
## Engagement für Geflüchtete ist keine Kunst
Frank Castorf hat die Frage, weshalb jetzt alle Theater Flüchtlingscafés
errichten, einigermaßen brutal beantwortet: Weil sie keine Kunst machen
wollen. Das Engagement für die Geflüchteten hat nichts mit Kunst zu tun.
Theaterleute haben keinen privilegierten Zugang zu Moral. Wenn sie
Deutschkurse geben oder Patenschaften für Notunterkünfte übernehmen, sind
sie, unabhängig von ihrem Beruf, einfach Teil der Zivilgesellschaft.
Gegen diese eigentlich selbstverständlichen Gesten der Solidarität dürfte
nicht einmal Frank Castorf etwas haben. Seine Polemik unterstellt, dass die
Flüchtlingscafés eine Art Ersatzhandlung sind und kompensieren, dass die
Theater ihrem eigenen Medium als Ort, der gesellschaftliche Konflikte
verhandeln kann, nicht mehr trauen.
Matthias Lilienthal, dem Intendanten der Münchner Kammerspiele, an diesem
Punkt der Antipode von Castorf, ist laut Eigenauskunft gute Sozialarbeit
lieber als schlechtes Theater. Abgesehen davon, dass fraglich ist, was
ausgerechnet Theaterkünstler zu Sozialarbeit befähigt, bestätigt
Lilienthals Formulierung genau das Misstrauen dem eigenen Medium gegenüber,
gegen das Castorf polemisiert.
18 May 2016
## AUTOREN
Peter Laudenbach
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