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# taz.de -- Ibsen-Doppel in Berlin: Dreck steigt wieder auf
> Mit Bildern der Kälte und spöttischem Witz kamen zwei
> Ibsen-Inszenierungen um gescheiterte Karrieren zum Theatertreffen nach
> Berlin.
Bild: Klein macht die Figuren, Gundhild (Birgit Minichmayr) und John (Martin Wu…
Nur noch aus harten Strichen ist dieses bleiche Gesicht gezeichnet. Zur
Entsagung war er bereit, zum Dienst an der Gemeinschaft, zur Aufklärung
eines Umweltskandals – der Kurarzt Doktor Tomas Stockmann in Ibsens Drama
„Ein Volksfeind“. Aber nun, da seine Gegner ihn ausgehebelt und ihm qua
Abstimmung das Wort entzogen haben, kommt noch Enttäuschung dazu und
Verachtung derer, die er aus der Unwissenheit führen wollte.
Transparenz werde gefordert? Lächerlich! „Alle sehen alles. Aber keinen
interessiert es“, sagt er. Und was das Ideal der Liquid Democracy angeht,
da hat er, der solo gegen einen Energiekonzern antreten wollte, auch einen
schönen Vergleich parat. „Fracking und blogging, alles die gleiche Scheiße,
Dreck wird runtergepumpt und Dreck steigt wieder auf.“
Man sieht den Schauspieler Markus Scheumann dabei in Großaufnahme auf der
Bühne, durchdrungen von den Bildern seiner Gegner, die derweil durch das
Foyer im Haus der Berliner Festspiele wieseln und das Publikum agitieren.
Der „Volksfeind“, den Stefan Pucher am Schauspielhaus Zürich inszeniert
hat, ist zum Theatertreffen nach Berlin gekommen und diese Szene kurz vor
Ende ist die spannendste des ganzen Spiels.
## Eigentlich Zombies
Wer als Einziger im Besitz der Wahrheit ist, gegen wen sich alle
verschwören, der wird leicht zum Fanatiker. Sich mit ihm zu identifizieren,
ihn gar zu lieben, will man nicht. Und doch ist er der einzige Held, den
Puchers Inszenierung, basierend auf einer Bearbeitung von Dietmar Dath, zu
bieten hat.
Herzerwärmend ist auch keiner der Protagonisten aus „John Gabriel Borkman“,
dem zweiten Ibsen-Stück auf dem Theatertreffen, das Simon Stone inszeniert
hat – eine Koproduktion zwischen den Wiener Festwochen, dem Burgtheater und
dem Theater Basel. Stone, 1984 geboren, wird heute für doch recht ähnliche
Eigenschaften geschätzt wie Stefan Pucher, 1965 geboren, knapp zwanzig
Jahre zuvor; immer an aktuellen Medien, neuen Unterhaltungsformen,
popkulturellen Diskursen interessiert.
Und nun sitzt bei beiden die Netzkommunikation den Ibsen-Figuren im Nacken,
die veröffentlichte Meinung treibt sie vor sich her.
Kalt sind diese Welten, Emotionen nicht mehr unbedingt im abrufbaren
Repertoire. Bei Pucher rollen manchmal Stative mit Tablets, auf denen die
puppensteifen Gesichter der Schauspieler aufploppen und reden, an deren
Stelle über die Bühne. Bei Simon Stone sind sie alle im Schnee begraben,
den Katrin Brack, die Bühnenbildnerin, zwei Stunden lang ununterbrochen
rieseln lässt, und erheben sich für ihre Auftritte wie Zombies.
## Wütendes Rumpelstizchen
Nur oberflächlich unterhaltsam zu sein, bemängelten Kritiker an beiden
Inszenierungen. Aber das stimmt nicht. Sie sind beide von einem tiefen
Pessimismus gezeichnet, was Kapitalismus, Demokratie und das Entwickeln von
Utopien angeht. Und beide verpacken das melancholische Leiden am
Unverbesserbaren der Gesellschaft in groteskem Witz. Ohne sich dabei weit
von Ibsen zu entfernen.
In „John Gabriel Borkman“ ist mit Caroline Peters, Birgit Minichmayr und
Martin Wuttke ein Team am Start, das sich den Ibsen überzieht wie einen
Pollesch. Sie karikieren schauspielerische Allüren und malen dabei die
Charaktere großartig aus. John Gabriel Borkman (Wuttke), Exbankchef und
Anlagebetrüger, versteigt sich zu manischer Selbstgerechtigkeit, hofft auf
ein Comeback und hat sich doch seit Jahrzehnten abgeschottet, zurückgezogen
ins Obergeschoss des Hauses.
Als ein zotteliges Rumpelstilzchen stapft er durch den tiefen Schnee, schon
immer zu kurz geraten für seine großspurigen Gesten. Unter ihm wohnt
Gunhild (Minichmayr), seine dem Alkohol verfallene Frau und erträumt sich
in schwankend hervorgerülpsten Sätzen eine politische Karriere für ihren
Sohn. Der aber will nur weg, leben, weit weg vom Vater, der trunksüchtigen
Mutter, der sterbenskranken Tante, die ihn großgezogen hat. Und alle zerren
an seinem jungen Leben wie die Vampire, auch Ella, die Tante (Peters), die
in all ihrer Bescheidenheit jetzt auch die in ihn investierte Liebe
zurückfordert.
## Fast betrunken
Wie die drei gründlich verkrachten Alten sich dann doch in der Empörung
über den Jungen plötzlich vereinen, nach Jahrzehnten des Schweigens an
einem Strang ziehen, um ihn nicht aus ihrem erstickten Leben
hinauszulassen, ist ebenso komisch wie tragisch in dieser Inszenierung.
Am Ende merkt man, dass diese Lemuren einen doch viel mehr berührt haben
als für möglich gehalten. Derweil fällt und fällt der Schnee, fast
betrunken macht dieses Bühnenbild. Eine Inszenierung aus einem Guss.
17 May 2016
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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