# taz.de -- Reality-Theater: Wie viel Wirklichkeit verträgt die Bühne? | |
> Die Theatergruppe Markus & Markus zeigt in Hildesheim drei Adaptionen von | |
> Ibsen-Stücken. Deren Tabubrüche versucht sie in die Gegenwart zu | |
> übersetzen. | |
Bild: Sind die Emotionen beim Reality-Theater dann auch real? Theatergruppe Mar… | |
HILDESHEIM taz | Eine weißhaarige Frau sitzt auf ihrem Balkon und schaut | |
zwei jungen Männern zu, wie sie Bowle zubereiten: Sie schütten Säfte, | |
Dosenfrüchte und jede Menge Schaumwein in einen enormen Plastikeimer. Die | |
Bowle schmeckt am Ende allen dreien, doch ganz am Ende steht der Tod. Das | |
wissen nicht nur Markus & Markus, das weiß auch Margot, die in ihren | |
letzten Wochen begleitet wird, und das Publikum weiß es auch. | |
Margot hat beschlossen zu sterben. Ihre Angehörigen sind seit Jahrzehnten | |
tot, schon seit Jahren kämpft sie mit einer immer länger werdenden Liste an | |
Krankheiten, nicht zuletzt an Geräuschsensibilität und Inkontinenz, die sie | |
weitgehend aus dem sozialen Leben ausschließen. Margot trägt Windeln und | |
spielt in der Performance des Hildesheimer Kollektivs den kranken Künstler | |
Osvald aus Henrik Ibsens Familiendrama „Gespenster“. | |
Ibsen rüttelte damals an Tabus. Er verstand es bestens, der Gesellschaft | |
den Spiegel vorzuhalten, indem er in ihre innerste Privatheit vorrückte und | |
diese ausstellte. | |
Wenn Markus & Markus den Tod auf der Bühne zeigen, immerhin verstellt durch | |
eine Videoaufzeichnung, loten auch sie Theaterkonventionen neu aus: „Wir | |
wollen ausprobieren, was im Theaterraum heute noch geht“, sagt der | |
Performer Markus Schäfer, und Markus Wenzel fügt hinzu: „Wir sind es leid, | |
Schauspielern zuzusehen, die so tun als würden sie sterben.“ | |
Im Theaterhaus Hildesheim zeigt die Gruppe, neben Schäfer und Wenzel | |
bestehend aus Katarina Eckold, Lara-Joy Hamann und Manuela Pirozzi, derzeit | |
ein Ibsen-Festival. In den drei Produktionen „Gespenster“, „John-Gabriel | |
Borkmann“ und „Peer Gynt“ arbeiten sie mit ExpertInnen des Alltags, die | |
stellvertretend stehen sollen für „randständige Symptome unserer | |
Gesellschaft“. | |
Margot ist dabei die Expertin fürs Sterben. Nach 81 Jahren hat sie sich für | |
den Tod entschieden. Zu lästig ist der alternde Körper, zu einsam ihr | |
Alltag: „Ich war immer glücklich, wenn ich etwas geschafft habe. Jetzt | |
falle ich nur noch zur Last“, sagt Margot, auf ihrer Couch sitzend, in | |
einer der zahlreichen Video- und Audiosequenzen. Markus & Markus haben über | |
eine Sterbehilfeorganisation Kontakt zu ihr aufgenommen, stellen aber auch | |
die zahlreichen Absagen aus, die sie sich geholt haben – diese Art des | |
Sterbens gehöre schließlich nicht auf eine Bühne. | |
Margot ist indes bereit, sich auf ihren letzten Wegen begleiten zu lassen | |
bei allem, was sie tut: beim Wäsche aufhängen, beim Vorlesen ihres | |
Abschiedsbriefs, beim Schminken, beim Spazierengehen, beim Sterben. | |
Jedenfalls, solange sich ihr „Termin“ dadurch nicht verschiebt. | |
Doch das Markus & Markus dokumentieren nicht nur Margots entschlossenen Weg | |
in die Schweiz, sie zeigen auch ihre Vergangenheit, blättern Fotoalben | |
durch, arbeiten achtzig Lebensjahre auf, mehrere Suizidversuche und ihre | |
Flucht aus der DDR inklusive. In einem der vielen Texte, die Markus & | |
Markus dem Publikum aus Leitz-Ordnern entgegen brüllen, erzählt Margot | |
zwischen Tür und Angel, wie sie vor fünfzig Jahren vergewaltigt wurde. | |
Spätestens hier wird klar, dass dieses „infame Theaterprojekt“ auch einen | |
sozialpädagogischen Ansatz hat: „Zwei Minuten vor ihrem Tod hat Margot sich | |
für den schönsten Monat ihres Lebens bedankt“, sagt Schäfer. Natürlich | |
waren die Wochen mit Margot auch für ihn ein einschneidendes Erlebnis. | |
„Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur; / doch mit dem Tod der | |
anderen muss man leben“, zitiert Margot ihr liebstes Gedicht von Mascha | |
Kaléko und trifft damit auch die beiden Darsteller, die eine neue Oma | |
gefunden haben. Eine Oma, die nicht müde wird, ihre Lebensmüdigkeit zu | |
betonen und die dennoch unablässig lacht, Scherze macht, sich betrinken | |
will. | |
„Wenn das hier so weitergeht, überlege ich mir das mit der Schweiz noch mal | |
anders und ruiniere euch das Theaterstück“, lässt Margot beiläufig fallen. | |
Sätze wie dieser verweisen auf die Willkür, mit der ein Leben verläuft. | |
Hätte Margot Enkelkinder gehabt, die sie regelmäßig besuchten, sie wäre | |
heute eine andere. | |
Eine ganz andere moralische Dimension bekommt „Peer Gynt“: Markus & Markus | |
machen ihn zum Demenzkranken, dessen Vergesslichkeit sie ausstellen. Anders | |
als Margot kann er nicht selbst entscheiden, ob er Protagonist, Regisseur | |
und Thema eines Theaterstücks sein will. | |
Mit fragwürdigen Methoden schaffen es Markus & Markus, randständige Figuren | |
der Gesellschaft zu ProtagonistInnen zu machen; genauso wie in „Ibsen: John | |
Gabriel Borkman“, einer Realityshow, in der sie einem Messie helfen, seine | |
Wohnung zu entmüllen. Die Fragen zu Demenz und Sterbehilfe sind nicht neu, | |
doch auch mit diesem theatralen Kommentar nicht so einfach zu beantworten | |
wie die nach der Verwerflichkeit von Kinderarbeit oder Waffenexporten. | |
Das Kollektiv arbeitet in allen drei Stücken mit jeder Menge popkultureller | |
Zitate von „Game of Thrones“ bis „Jurassic Park“ und mit ironischen | |
Brüchen, die bereits zur Masche werden. Wenn Wenzel im Sensenmannkostüm | |
Ballett tanzt und Schäfer Bier oder Sekt trinkt bis zum Erbrechen, | |
verlassen sie sich auf Alleinstellungsmerkmale, von denen sie wissen, dass | |
und wie sie funktionieren. | |
„Margot spielt fantastisches Theater“, findet Wenzel: „Ihre preußische A… | |
standzuhalten, noch auf dem letzten Weg gut auszusehen, ihre | |
Entschlossenheit und ihr Humor“ gäben einen wunderbaren Osvald. Noch beim | |
Unterschreiben der letzten Formulare in Zürich streckt sie der Kamera die | |
Zunge entgegen. | |
Termin und Dauer der Selbsttötung werden veranschlagt, Schäfer und Wenzel | |
erklären sich bereit, vor der Polizei Margots Identität zu bestätigen. | |
Einen letzten Kaffee schlägt Margot aus, sie wolle „jetzt lieber eine | |
Infusion“. Noch auf dem Bett, die Injektion ist schon gestochen, bedankt | |
sie sich für die Hilfe, die ihr beim Sterben zuteil wird, wünscht alles | |
Gute und Erfolg bei der Premiere. Die beiden Darsteller setzen sich ins | |
Publikum und kämpfen selbst mit der Rührung, als sie Margot nochmals beim | |
Sterben zuschauen müssen; dabei geht es schnell und scheinbar schmerzlos. | |
Es grenzt an ein Wunder, dass das Theaterkollektiv Margot trotz der | |
albernen Powerpoint-Präsentation mit Henkersmaske, trotz der tausenden | |
Häschenfiguren, trotz des erbrochenen Kunstblut-Sekt-Gemischs und trotz | |
närrischer „Dinner for One“-Verweise ein würdiges Denkmal geschaffen hat. | |
Als sie tot ist, tanzen Markus & Markus ihr auf Händen ein kurioses letztes | |
Ballett. Wenn Margot es gesehen hätte, es hätte ihr wohl gefallen. | |
Gespenster: 9., 10. + 11. Dezember, Bremen, Schwankhalle | |
24 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Kornelius Friz | |
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