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# taz.de -- Politisches Theater: Die Letzten sind grausam traurig
> Das Endzeitdrama „Nostalgie 2175” zum Klima-Kommentar aufzubauschen, ist
> zwar daneben. Psychologische Tiefe hat die Bremer Inszenierung trotzdem.
Bild: Ein selten zärtlicher Moment im Ehekrieg: Siegfried W. Maschek und Nadin…
BREMEN taz | Da verbrennt ein Klavier im Hof des Bremer Theaters. Die
Zerstörung des Instruments steht wohl für das Ende von Kunst und Kultur –
oder zumindest für die Unmöglichkeit, sie durch neues Spiel am Leben zu
halten. Nun gut, ein Schocker, den man für sich wohl aushalten könnte, der
einen aber dennoch beunruhigt in die Premiere des Endzeitstücks „Nostalgie
2175” gehen lässt: Denn wer vom Weltuntergang spricht und dabei die
Hochkultur meint, vergisst allzu oft, wo die schlimmste Barbarei zu Hause
war. Und dass ein Klavier zu haben und es spielen zu können, den Menschen
und die Welt um nichts besser gemacht hat.
Regisseurin Anne Sophie Domenz aber hat es nicht vergessen. Und gerade
darum ist das brennende Instrument mehr als ein bisschen Gezündel an einem
wohl eh längst ausrangierten Requisit. Ihr Weltuntergang nämlich handelt
von denen, die ihn überlebt haben und dem längst vergangenen, dem Zugriff
entschwindenden Davor.
Die Menschen nach der Katastrophe verlassen das Haus nur noch in
Schutzanzügen. Draußen brennt die Sonne bei 60 Grad hernieder und versengt
die ungeschützte Haut. In dieser lebensfeindlichen Umwelt erwartet Pagona
die Geburt ihres Kindes, obwohl sie ihren Mann Taschko noch nie berührt
hat. Der wurde einst überfallen, vergewaltigt und in der Sonne liegen
gelassen. Er überlebte knapp mit völlig verbrannter Haut.
Doch von unbefleckter Empfängnis keine Spur: „Ich hab mit deinem Boss
gefickt“, haut Pagona Taschko so roh wie provozierend um die Ohren. Ein
kleines Wunder ist die anstehende Geburt aber trotzdem, denn Zeugung durch
Geschlechtsverkehr gelingt nur noch alle paar Jahre mal – und wenn, dann
stirbt die Mutter sehr wahrscheinlich unter der Geburt.
Geschrieben wurde „Nostalgie 2175“ von Anja Hilling, die 1975 im
emsländischen Lingen geboren wurde. Vor zehn Jahren hat Theater Heute sie
zur Nachwuchsautorin des Jahres gekürt, mittlerweile werden ihre Stücke
international von Schottland bis Mexiko gespielt. Die
Beziehungskonstellation in „Nostalgie 2175“ konstruiert Hilling als
reichlich verschachtelten Text voller Rückblenden – getragen von Pagonas
Monologen, die sie ihrem noch ungeborenen Kind als Videobotschaft
hinterlässt.
Domenz’ Inszenierung tut gut daran, diese Sperrigkeit aufzubrechen und die
anderen Figuren ausführlich daran zu beteiligen. Domenz lässt sie ertragen,
was Pagona so über sie spricht. Die Spannung ist unangenehm greifbar.
Und das, obwohl Nadine Geyersbach es mit Pagonas Dauerverzweiflung
bisweilen übertreibt und Matthieu Svetchine die Ambivalenz des Gönners und
Ausbeuters Posch arg einseitig zum Kalkül des Arschlochs hin auflöst. Doch
im Miteinander funktioniert, was Domenz in Sado-Maso-Bildsprache
organisiert: Da wird gewürgt, gefesselt und der abwesende Dritte als
„Cuckold“ an den Rand gesetzt – als Ehemann, welcher der lustvollen
Überwältigung seiner Frau durch den eigenen Boss tatenlos zusieht. Und der,
wer weiß, vielleicht auch selbst noch Lust dabei empfindet.
Diese Menschen haben aufgrund ausbleibender Geburten gute Chancen, die
vorletzten der Welt zu sein. Und sie sind grausam – zu sich selbst und
zueinander. Klar, da sind auch Momente außerordentlicher Zärtlichkeit: wenn
Siegfried W. Maschek als Taschko ein Tuch mit rotem Glitzerkram aus der
Tasche zieht und es Pagona sanft über die Haut pustet. Er hat sich
eingerichtet in seinem Leiden. Ewig Opfer bleiben zu wollen, wirft Pagona
ihm bis zum Schluss vor. Zumindest damit hat sie wohl Recht.
Mit unerschütterlicher Ruhe hält er jede Aggression milde lächelnd aus und
lässt sie an sich abprallen. Wenn es dann doch einmal nicht mehr geht, sagt
er: „Du redest Scheiße.“ Und Pagona geht hysterisch schreiend zu Boden oder
verstummt.
Die Bühne ist weiß ausgekleidet, mit Schutztapeten aus menschlicher Haut.
Der Materialnachschub ist gesichert, seit ein Gesetz die Menschen zur
posthumen Hautspende verpflichtet.
Die Premiere Ende November wollte man am Goetheplatz als „anlässlich der
Weltklimakonferenz in Paris” verstanden wissen. Doch als Öko-Schocker
versagt das Stück ob seiner psychologischen Tiefe vollkommen. Es war dem
Endzeit-Genre schon zu seiner Begründung durch „The Last Men“ von
Frankenstein-Autorin Mary Shelley völlig egal, warum genau die Welt nun vor
die Hunde gegangen ist. Geändert hat sich daran nichts: Es geht und ging
immer nur darum, was aus den Trümmern der alten Gesellschaft geworden ist –
was Menschen tun, die nichts mehr haben, außer ihrer Vergangenheit.
Die Welt von „Nostalgie 2175“ ist auf pseudowissenschaftlicher Grundlage
konstruiert und taugt auch darum nicht als Kritik des Klimawandels: Pagona
will eben nichts wissen, sondern hoffen dürfen. Nur zwei Prozent der
Gebärenden sollen die Geburt überleben. Wie diese Wahrscheinlich auf
Grundlage von nur neun vorliegenden Fällen errechnet wurde, ist so fraglich
wie egal. Aber immerhin: Das Kind der letzten überlebenden Mutter ist
Mathematiker geworden.
Also doch wieder Kultur. Auf dem Bühnenhintergrund flackert noch immer eine
Projektion des brennenden Klaviers auf dem Hof. Auch Taschko ist Künstler
von Beruf. Er bemalt die Menschenhaut-Tapete mit Bildern, die der Zuschauer
im Theater nur beschrieben bekommt und die er trotzdem wiedererkennt.
Es sind Filmszenen aus einer Zeit, die nicht erst im Jahr 2175 nostalgische
Gefühle beflügelt: Ein nacherzählter Tanz im See entstammt dem
80er-Jahre-Schinken „Dirty Dancing“. Und spätestens da, in der
Konfrontation mit den Trümmern von heute und möglicherweise der eigenen
Nostalgie – da wird einem das Klima dann genauso egal wie das Wetter nun
mal ist.
6 Jan 2016
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
Bremer Theater
Klima
Russland
Theater
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