# taz.de -- Regisseur über Integration: „Ich war der Über-Deutsche“ | |
> Dan Thy Nguyen ist Sohn vietnamesischer Boat People. Seine Eltern haben | |
> ihm nie etwas über ihre Flucht erzählt. Gespräch über Integration und | |
> Fremdsein. | |
Bild: „Ich habe versucht, Rassismus auszuweichen, indem ich mich assimilierte… | |
taz: Herr Nguyen, wann erfuhren Sie, dass Sie den Namen Ihres toten Bruders | |
tragen? | |
Dan Thy Nguyen: Erst vor ein paar Jahren. Mein Vater hat es in einem | |
schwachen Moment meiner Schwester erzählt. Denn meine Eltern sind in den | |
1970er-Jahren als Boat People nach Deutschland gekommen und mein Bruder | |
starb auf dieser Flucht. Ob er ertrank, verhungerte oder von Piraten | |
ermordet wurde, weiß ich bis heute nicht. | |
Haben Sie nicht gefragt? | |
Schon, aber darüber wird in den Familien fast nicht gesprochen. Meine | |
Eltern sind in den 1950ern geboren und traditionell konfuzianistisch | |
erzogen. Da erzählt man den Kindern nichts Persönliches. | |
Heißt das, Sie wissen nichts über die Flucht Ihrer Eltern? | |
Doch, weil man in der Community zwar nicht über die eigene Familie spricht, | |
aber über die anderen. So habe ich von Bekannten und Verwandten erfahren, | |
wie es meinen Eltern ergangen sein muss. | |
Nämlich? | |
Nachdem die Kommunisten den Krieg gewonnen hatten und Vietnam | |
wiedervereint wurde, fürchteten meine Eltern Repressalien. Denn mein Vater | |
war Sohn eines Fabrikbesitzers, meine Mutter Lehrerin, und damit galten sie | |
als „Großkapitalisten“. | |
Was drohte ihnen? | |
Es wurden oft sehr willkürlich Menschen ermordet. Meine Oma hat erzählt, | |
dass fast jeden Abend an eine Haustür geklopft und jemand herausgezerrt | |
wurde. Dann mussten alle ans Fenster kommen und zusehen, wie derjenige | |
exekutiert wurde. Man wusste nie, ob man der nächste sein würde. Also | |
beschlossen meine Eltern zu fliehen, und da die Landesgrenzen zu waren, | |
mussten sie übers Meer. | |
Wer half ihnen? | |
Sie haben Fischer bezahlt, die sie – und 300 andere – in ein winziges Boot | |
brachten. Sie glaubten, sie würden nach wenigen Tagen von den Amerikanern | |
gerettet und hatten kaum Lebensmittel mit. Aber die Rettung blieb aus, und | |
die Reise dauerte sechs Monate. Als eiserne Reserve hatten sie Blattgold – | |
den Gegenwert ihre veräußerten Besitzes – in die Kleidung eingenäht. | |
Kamen sie heil übers Meer? | |
Insgesamt müssen damals zwischen 50.000 und 500.000 Menschen ertrunken | |
sein. Meine Eltern überlebten, aber unter schlimmen Bedingungen: In fast | |
allen Geschichten, die ich gehört habe, haben thailändische Fischer die | |
Boote überfallen und massenhaft Frauen vergewaltigt. | |
Betraf das auch Ihre Mutter? | |
Ja. Ich gehe davon aus, dass sie 30, 40 Mal vergewaltigt wurde. Und das | |
Schlimme ist, dass die Männer gezwungen wurden, dabei zuzusehen. Das | |
erzeugte enorme Konflikte, denn später haben die Frauen ihren Männern | |
Tatenlosigkeit vorgeworfen. Darüber habe ich lange nachgedacht, bis ich | |
verstanden habe: Hätte mein Vater eingegriffen, wäre er auf jeden Fall tot. | |
Und zwischen „auf jeden Fall tot“ und „vielleicht tot“ besteht ein ries… | |
Unterschied. | |
Gab es in Deutschland therapeutische Hilfe für traumatisierte Boat People? | |
Ich kenne keinen Fall. Es gab ein perfektes Patensystem, aber bezüglich der | |
Fluchtdetails hieß es: „Jetzt seid ihr da, seid froh, es ist vorbei!“ Es | |
herrschte eine Schlussstrich-Mentalität und letztlich hat sich die deutsche | |
Bevölkerung nie dafür interessiert. | |
Macht Sie das wütend? | |
Ja, besonders, wenn es heute heißt: Wir kommen nicht mit den vielen | |
Menschen klar, die übers Meer zu uns kommen. Warum kommt man nicht zu den | |
Boat People, die dasselbe durchgemacht haben, und versucht zu begreifen, | |
was sie erlebt haben? Dass das unglaublich hart ist, dass es auf der Flucht | |
sogar zu Kannibalismus kommen kann? Mein Onkel zum Beispiel hat sein | |
eigenes Kind essen müssen. Er ist später Alkoholiker geworden. Ich kann das | |
verstehen. | |
Sie wurden in Deutschland geboren. Waren Sie integriert? | |
Ich bin im nordrhein-westfälischen Dorf Langerwehe aufgewachsen und dort | |
gab es in den 1990ern gefühlt jeden Monat Steine gegen unsere Hausfront und | |
„Ausländer raus“-Rufe. Wenn ich das in der Schule erzählte, sagten die | |
Lehrer: „Rassismus gibt es in Deutschland nicht. Den haben wir nach dem | |
Zweiten Weltkrieg überwunden. Du lügst.“ | |
So klar? | |
Ja. Dabei hatten wir zu Hause in jedem Zimmer einen Knüppel. Und mein | |
Vater, der Krieg erlebt hatte, brachte uns bei, wie man sich gegen | |
Angreifer verteidigt. | |
Und in der Schule taten Sie so, als könnten Sie Kung Fu. | |
Ja, denn ich hatte bemerkt, dass die Jugendlichen mich fürchteten, weil sie | |
dachten, ich beherrschte das. Ich habe dann viele Kung-Fu-Filme geschaut | |
und die Gesten imitiert. Damals habe ich mich zum ersten Mal mit | |
Schauspielerei befasst. Ich habe eine Rolle gespielt, um zu überleben. | |
Hat es funktioniert? | |
Jahrelang – bis irgendwann Leute, die Kung Fu konnten, verstanden, dass ich | |
nur spielte. Daraufhin bin ich mehrfach verprügelt und als „Vietkong“ | |
beschimpft worden. Dabei sind meine Eltern doch vor den Vietkong geflohen! | |
Sind Sie dem Rassismus entkommen? | |
Ich habe versucht, ihm auszuweichen, indem ich mich assimilierte. Ich | |
dachte: Wenn diese Hautfarbe bedeutet, angegriffen und beschimpft zu | |
werden, dann will ich nicht dazugehören. Ich wollte nichts mit der | |
vietnamesischen Community zu tun haben, wollte der Über-Deutsche sein. | |
Was haben Sie gemacht? | |
Ich habe mich systematisch durch deutsche Literaturgeschichte und | |
westeuropäische Musik seit den 1950er-Jahren gearbeitet. Ich hatte die | |
Idee: Um als gleichberechtigt anerkannt zu werden, muss ich besser als die | |
Deutschen sein. Und letztlich hat es funktioniert. Irgendwann hieß es: | |
Außen ist er gelb, aber innen ist er weiß. Der gehört zu uns. Dann bin ich | |
auch nicht mehr angegriffen worden. | |
Fühlten Sie sich wohl? | |
Eine Zeit lang. Aber irgendwann merke ich: Ich spiele ja nur eine Rolle, | |
mache mir was vor. Das ist ja nicht mal eine Identität. Das merkt man, wenn | |
man mit Freunden zusammensitzt und denkt: Die kennen deine Geschichte | |
nicht, denn du hast sie ihnen nie erzählt. So geht es mir auch jetzt | |
während der Flüchtlingskrise. Ich denke: Wieso wissen meine Freunde nicht, | |
dass auch meine Familiengeschichte eng mit dem Krieg verbunden ist? Meine | |
Großeltern haben Napalm-Bomben erlebt und gesehen, wie Menschen zu Kohle | |
wurden. Darüber muss man doch sprechen! | |
Was Sie in Ihren Theaterstücken und Performances tun. | |
Ja. Anfangs interessierte mich das gar nicht so. Aber als mich immer mehr | |
Menschen auf meine Familiengeschichte ansprachen, dachte ich, ich greife | |
das auf. Ich habe mich dann künstlerisch nicht nur mit den Boat People | |
befasst, sondern auch mit vietnamesischen Vertragsarbeitern, deren | |
Wohnungen 1992 in Rostock-Lichtenhagen von Neonazis angezündet wurden. | |
Daraus habe ich das Hörspiel „Das Sonnenblumenhaus“ gemacht. | |
Das Zeugenaussagen Überlebender enthält. | |
Ja, und das ist das Frappierende: Alle haben Rostock-Lichtenhagen überlebt. | |
Mich hat interessiert: Wie kann es sein, dass Menschen den Brand in einem | |
siebenstöckigen Hochhaus überleben, denen niemand hilft? Ich habe | |
diejenigen, die in Deutschland geblieben waren, gefragt und verstanden: | |
Auch sie kannten den Krieg und wussten, wie man sich verteidigt. Sie haben | |
ihre Evakuierung von Stockwerk zu Stockwerk selbst organisiert. | |
Half man jenen, die in Deutschland blieben, therapeutisch? | |
Nein. Und für die Täter gab es Kleinststrafen. Es gab nie Gerechtigkeit für | |
die Opfer – so wenig wie für meine Eltern. Das macht mich wütend. Dazu | |
kommt, dass ich seit dem Lichtenhagen-Projekt über Facebook und E-Mails | |
Morddrohungen bekommen habe. Da habe ich gemerkt: Ich muss noch mehr | |
öffentlich sprechen, damit die Öffentlichkeit ein Schutz ist. | |
Fühlen Sie sich wenigstens als Schauspieler integriert? | |
Nicht in den offiziellen Theaterbetrieb. Da hat man mir schon auf der | |
Schauspielschule gesagt, dass man meine Gesten, meine Codes nicht versteht. | |
Um Stärke zu zeigen, müsse man den Fuß abrollen, kräftig auftreten und die | |
Brust rausdrücken. Das ist unter Vietnamesen nicht üblich. Da geht man | |
einfach normal geradeaus. Als meine Schauspiellehrer das nicht | |
akzeptierten, wurde mir klar, wie eurozentristisch der deutsche | |
Theaterbetrieb ist. Diese Erfahrung fällt übrigens in die Zeit Ende der | |
1990er-Jahre, als man darüber diskutierte, ob Asiaten das Recht hätten, | |
europäische klassische Musik zu spielen. | |
Aber Sie haben doch auf renommierten Bühnen gespielt. Warum haben Sie die | |
zugunsten freier Projekte verlassen? | |
Weil ich immer nur als Vorzeige-Asiat gecastet wurde – aber niemals in der | |
Haupt- oder einer nennenswerten Nebenrolle. Eigentlich gab es nur zwei | |
Varianten: den verrückten Asiaten, der die ganze Zeit Blödsinn macht – oder | |
den Großkriminellen. Deshalb habe ich irgendwann beschlossen, mein eigenes | |
Ding zu machen. Ohne diesen strukturellen Rassismus. | |
Warum zeigen Sie Ihre nächste Performance über die Flucht Ihrer Eltern in | |
Hamburgs Völkerkunde-Museum? Es soll doch keine Völkerschau sein! | |
Natürlich nicht. Aber es ist in Hamburg – neben der Kulturfabrik Kampnagel | |
– der einzige Ort, wo dieses Thema möglich ist. Die großen Theater machen | |
so etwas nicht, weil sich ihr Publikum nicht dafür interessiert. | |
23 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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