# taz.de -- Theater im Knast: Jeden Morgen Filmriss | |
> Premiere in der JVA Oslebshausen: Die jungen Schauspieler zeigen ein | |
> Miteinander, das ihr Regisseur bei Profis draußen oft vermisst. | |
Bild: Künstler im Knast: Regisseur Felix Reisel beim Proben | |
BREMEN taz | Ohne Erinnerung an die vergangene Nacht aufzuwachen, ist nie | |
angenehm. Passiert es aber in einer Gefängniszelle, drängt die Frage noch | |
nachdrücklicher: „Wie bin ich hierhergekommen?“ Für einige jugendliche | |
Inhaftierte der JVA Oslebshausen war sie der Ausgangspunkt, das | |
Theaterstück „Haus am See“ zu entwickeln. Nach vier Monaten Vorbereitung | |
unter Anleitung der ehemaligen MOKS-Mitarbeiter Alexander Hauer und Felix | |
Reisel vom Kulturprojekt „Opus Einhundert“ steht nun am Freitag die | |
Premiere an. Es ist die einzige Aufführung des Stücks. | |
In sechs Episoden erzählen die Jugendlichen von ihrem Leben und bedienen | |
sich aus einem reichhaltigen Fundus schlechter Erfahrungen. „Mit ihren | |
eigenen Geschichten sind sie am stärksten“, sagt Hauer. Da fremde Inhalte | |
drüber zu stülpen wäre Quatsch. Einer kam als unbegleiteter minderjähriger | |
Flüchtling aus Marokko. Von seiner zweijährigen Odyssee erzählt er aber | |
nicht als Fluchtgeschichte, sondern als Abenteuer. Auch die anderen führt | |
die Rekonstruktion der Ereignisse von letzter Nacht an Sehnsuchtsorte, von | |
Sylt bis Monaco, um doch wieder im Knast zu enden – gefangen in einer | |
Zeitschleife. | |
Es ist bereits das vierte Stück, das [1][Opus Einhundert] und [2][der | |
Verein Bremische Straffälligenbetreuung] in der JVA auf die Bühne bringen. | |
Mittlerweile ist ein Vertrauensverhältnis zwischen Anstaltsleitung und | |
Theatermachern entstanden. Saß zur Generalprobe des Debüts noch ein | |
Aufpasser im Publikum, geht es heute ohne Vorzensur. Das Personal wirbt | |
auch unter den Jugendlichen, es mit dem Theater doch wenigstens mal zu | |
versuchen. „Freiwillig mit kleinem Schubs“, sagt Hauer dazu. | |
Den Jugendlichen aber müssen die beiden Regisseure jedes Mal wieder | |
beweisen, dass sie es ernst meinen mit dem Theater, und dass sie nicht bloß | |
hier sind, um sich „Kultur macht stark“-Fördergelder des | |
Bundesfamilienministeriums unter den Nagel zu reißen. Es hat geklappt: | |
Sieben von zehn Inhaftierten sind geblieben. Es ist die bisher größte | |
Besetzung des Projekts. | |
Als Resozialisierer sieht Hauer sich übrigens nicht. „Das würde mich | |
ehrlich gesagt auch überfordern“, sagt er, und dass er nur wegen der Kunst | |
hier sei. Aber natürlich begreifen die Jugendlichen das Theater nicht nur | |
als Chance, sich auszuprobieren, sondern sehen die Bühne auch als | |
Sprachrohr, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. | |
Dabei legen sie laut Hauer ganz eigene Qualitäten an den Tag. Denn während | |
SchauspielerInnen draußen oft eher kreative Selbstumkreiser seien, sei es | |
im Knast „überlebensnotwendig, immer zu wissen, was hinter mir los ist“, so | |
Hauer. Auch hätten die Gefangenen ein bemerkenswertes Gespür dafür, wenn | |
jemand an seine Grenzen komme. | |
Das passiert schnell im Theater, wo man gezwungen ist, sich zu öffnen. Jede | |
Schultheatergruppe verpflichtet sich, auf dem Pausenhof Stillschweigen zu | |
bewahren über die Blamagen der anderen. Auf dem Knastflur, wo man Härte | |
zeigen muss, gilt das noch mehr. Doch sich an einen Kodex zu halten, „da | |
sind sie ja spezialisiert“, sagt Hauer. | |
Wofür die Schauspieler einsitzen, werden sie im Projekt nicht gefragt. Man | |
konzentriere sich ganz auf die Arbeit, sagt Hauer. Ganz frei vom | |
Knastalltag ist die aber nicht. „Vor allem das Essen scheint furchtbar zu | |
sein“, sagt Hauer. Die Regisseure bringen darum Obst mit zu den Proben. | |
Angst haben die Theatermacher heute nicht mehr, wenn sie mit den | |
Jugendlichen allein sind. Es gibt zwar einen Notruf, doch benutzt wurde der | |
noch nie. Auch beim ersten Mal nicht, als die Aufführung „völlig in die | |
Hose ging“. Damals habe sich eine Clique angemeldet, mit Rädelsführern und | |
Hierarchie. Durchgezogen haben sie es trotzdem. „Es muss auch mal | |
schiefgehen dürfen“, sagt Hauer heute – „so ist eben Kunst.“ | |
Zur Premiere ist neben Verwandtschaft und VollzugsbeamtInnen auch die | |
Öffentlichkeit eingeladen. Und weil auch das zum Theater gehört, gibt es | |
hinterher eine kleine Premierenfeier mit Pizza, Döner und Cola. Für das | |
Ensemble folgt dann eine ausführliche Nachbereitung. Denn wie Hauer weiß, | |
ist es – zurück in der Zelle – nur allzu leicht, „in ein tiefes Loch zu | |
fallen“. | |
Aufführung: 20. November, Treffpunkt um 17.45 Uhr an der JVA-Pforte. | |
Anmeldung zwingend zum 18.11. unter: ☎ 0421 / 69 69 77 36. Wegen der | |
Sicherheitsbestimmungen müssen dabei der vollständige Name, Adresse und | |
Geburtstdatum angegeben werden. | |
16 Nov 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://opuseinhundert.com/ | |
[2] http://www.straffaelligenhilfe-bremen.de/ | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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