| # taz.de -- Theatertreffen in Berlin: In die Fenster schauen | |
| > Nicht wissen, wie es weitergeht: Diese Angst verbindet die ersten | |
| > Gastspiele des Theatertreffens von Simon Stone und Kay Voges. | |
| Bild: Das Haus der „Drei Schwestern“, aus dem die Schwägerin vertrieben wi… | |
| Alles dreht sich. Erzeugt Rausch, erzeugt Schwindel. Zieht einem den Boden | |
| unter den Füßen weg. Bilder, Welt, Nachrichten, alles fliegt vorbei. Fliegt | |
| vorbei, ist nicht zu fassen und wiederholt sich. Ist viel zu viel, und | |
| dreht sich doch in Loops, in Schlaufen, zieht sich eng zusammen. | |
| Beschleunigt und fühlt sich doch an wie Stillstand. | |
| Ja, was ist das jetzt? Ein Staunen darüber, was sich verbindet in den | |
| ersten Inszenierungen, die seit Samstag auf dem Theatertreffen in Berlin zu | |
| sehen waren. Es ist ein Haus mit vielen Fenstern und verschachtelten | |
| Zimmern, das sich in den „Drei Schwestern“ von Simon Stone dreht und dreht | |
| im letzten Akt, während es leer geräumt wird von den Schwestern und den | |
| vielen sie umgebenden jungen Männern, die oft selbst nicht wissen, in | |
| welchem Beziehungsstatus sie sich gerade zu Olga, Mascha und Irina befinden | |
| (Schauspielhaus Basel). | |
| Es ist eine Kamera, die unentwegt, drei Stunden fast, um einen Komplex | |
| labyrinthischer Räume kreist in Kay Voges „Borderline Prozession“ und | |
| dieses gleitende Schauen in alle Räume und ihr immer merkwürdiger werdendes | |
| Leben über den Blick in die einzelnen Kammern legt (Schauspiel Dortmund). | |
| Und es ist ein winziges Stückchen Text, eine idiotische Quizshow – „Claire, | |
| errate das Wort, an das Jerry jetzt denkt“ – und jedes Mal ist das Wort | |
| falsch –, was Forced Entertainment in „Real Magic“ 10-, 15-mal, ach man | |
| hört zu zählen auf, wiederholt (von 9 koproduzierenden Häusern). | |
| ## Von Neugierde zu Mitgefühl | |
| Jeder Regisseur der zehn Inszenierungen, die eine Kritikerjury ausgesucht | |
| hat, kommt zum Publikumsgespräch, auch das gehört zum Theatertreffen. | |
| Simone Stone, in Australien aufgewachsener Schweizer, erinnerte sich an | |
| einen Besuch in Amsterdam, wie ihn die gardinenlosen Fenster anregten, sich | |
| das Leben in den Häusern vorzustellen, die Gleichzeitigkeit von allem, was | |
| nebeneinander passiert. Bei ihm wird aus der Lust am Zuschauen, neugierig | |
| erst wie ein Forscher am Leben dieser Wohlstandskinder interessiert, am | |
| Ende ein emphatischer Schwall, ein glühendes Mitgefühl, auch für die | |
| Idioten. | |
| Abgeklärt taten die vielen jungen Leute in seinen „Drei Schwestern“ zwei | |
| Akte lang, cool und wissend, angeödet auch von sich selbst und der eigenen | |
| Unentschiedenheit, ja, was mach ich denn aus meinem Leben? Poser sind unter | |
| ihnen und Arschlöcher auch. Aber wie sie dann verzweifeln im letzten Akt, | |
| in Wut geraten über sich und andere, und dabei alles aus dem Haus, das sich | |
| die eine, die Schwägerin Natascha, die unter ihnen nie willkommen war, | |
| unter den Nagel gerissen hat, wegtragen müssen, da wachsen sie einem Herz, | |
| erschrickt man über ihre Ratlosigkeit, leidet mit ihren Ängsten. | |
| Von diesem Punkt aus verändert sich, was man vorher sah, als die Texte | |
| vorbeirauschten, Natascha Männer verführte, Irina jeden Entschluss gleich | |
| wieder bereute, ihr Bruder Andrej von großen Projekten träumte und doch nur | |
| alles Geld verspielte. Am Ende erst kennt man sie, ahnt ihre Beziehungen, | |
| ihre Nöte, denen man Anfangs in diesem hyperrealistischen Spiel zusah wie | |
| den Unbekannten am Nebentisch. | |
| ## Das nie vollständige Bild | |
| Auch Voges ist vom Zuschauen gepackt, dem Nebeneinander von Alltag, von | |
| Nachrichten, von medialen Echos, literarischen Stimmen. Er zitiert, | |
| gesprochen und als Schriftbild, Goethe, Schelling, Nietzsche, Deleuze, es | |
| geht um Erkenntnis und wie man nie das ganze Bild zusammenbekommt. Derweil | |
| entfalten sich in den Zimmern mehr und mehr kleinteilige Dramen, ein | |
| einsamer Mann verliebt sich erst und verprügelt sie später, ein Paar findet | |
| nicht zueinander, ein Mann wird überfallen, eine Frau stirbt. Erst scheint | |
| sich alles nur zu wiederholen, dann sind doch überall Veränderungen | |
| eingetreten, keine zum Guten. | |
| Im Bordell lässt sich einer auspeitschen und bittet dabei um Verzeihung, so | |
| ziemlich für alle großen Verbrechen der Gegenwart. Napoleon (oder sein | |
| Gespenst) tritt auf, mit einem Text von Jonathan Meese, einer Huldigung an | |
| alle Lolitas, während 20 und mehr Girlie-Figuren durch alle Räume wuseln. | |
| Blues wird gespielt und Mahler, jede Musik verändert die Stimmung, den | |
| Film, den man gerade zu sehen glaubt. | |
| Vor dem Eingang steht eine Reihe von Regeln. Nr. 5 lautet „Es gibt nichts | |
| zu verstehen, aber viel zu erleben.“ „Was für ein eitler Wichser“, murme… | |
| einmal Besucher und meinen den Regisseur, der mit dem Kamerawagen mitläuft. | |
| Ja, tatsächlich, man kann sich aufregen, was er hier an Bedeutungsvollem | |
| übereinanderstapelt und dann gleich wieder wegwischt, wie er Wissen, | |
| Bildung, Hochkultur häppchenweise einstreut, das hat etwas Großspuriges, | |
| erinnert an die Überflieger, die um die „Drei Schwestern“ herumwuseln. | |
| ## Hochtunen von Stimmungen | |
| Es gab eine Zeit, da liebten es die VJs (Visual Jays) im Kunstkontext, zu | |
| harter, minimalistischer Musik historische Bilder vom Ornament der Masse | |
| und Diktatorenauftritten einzuspielen, als trauten sie selbst nicht der | |
| Auflösung der Ich-Grenzen, der die Musik zustrebte. Was Kay Voges mit | |
| seinen Koautoren Dirk Baumann und Alexander Kerlin zusammenrührt, erinnert | |
| daran. | |
| Und dennoch entsteht in diesem Andeuten von Geschichten, in diesem Fluten | |
| von Bildern, in dem Hochtunen von Stimmungen – auch von Panik und Bedrohung | |
| – , in den Verweisen auf Tagespolitik durchaus eine Zustandsbeschreibung, | |
| in der man sich wiederfinden kann. Das unaufgeräumte Hirn, durch das dieser | |
| Trip hier geht, könnte das eigene sein. | |
| Wenn das Schauspiel Dortmund wieder einpackt, brauchen sie mehrere Lkws. | |
| Das Bühnenbild von Forced Entertainment hingegen wirkt, als würde es locker | |
| in einen Kombi passen. Kunstrasen zusammengerollt, drei Pappschilder, drei | |
| Vogelkostüme. Energie- und ressourcenschonend wirkt das im Vergleich, eine | |
| sympathische Zurückgenommenheit, die alles bei ihnen grundiert. | |
| 12 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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