# taz.de -- „Skandaloper“ in Hannover: Offene Wunde des Deutschnationalen | |
> Mit seiner „Freischütz“-Inszenierung in Hannover thematisiert Kay Voges | |
> den Pathosbegriff „Nation“ in seiner Widersprüchlichkeit. | |
Bild: Wird zur Witzfigur: Eva Verena Müller als teuflischer Samiel. | |
HANNOVER taz | Knisternde Spannung im pickepackevollen Rangfoyer. Es wird | |
scheu getuschelt, gemurmelt, gezischelt. Seit der hannoverschen | |
„Freischütz“-Premiere geistert mal wieder das aufregende Wörtchen „Skan… | |
durch die öffentlich-rechtlichen, PR- und sozialen Medien. Musiktheaterfans | |
stehen bang vor der Frage: Will man dabei, muss man dagegen, sollte man | |
dafür sein? | |
Als geistigen Beistand hat die Staatsoper einen Schlichter bestellt: Es | |
schlägt die halbe Stunde des Dramaturgen. Klaus Angermann schreitet | |
kampfeslustig zum Rednerpult. Theater sei keine Heraufbeschwörung von | |
Vergangenheit, „Theater ist Gegenwartskunst.“ So beginnt sein | |
leidenschaftlich gut begründetes Plädoyer. Wer Deutschlands erste, fast 200 | |
Jahre alte Nationaloper inszeniere, müsse den Pathosbegriff „Nation“ in | |
seiner Widersprüchlichkeit thematisieren, sagt Angermann. | |
Wer nach diesen Worten der Tonsetzerkunst Carl Maria von Weber lauscht, | |
hört bereits die Ambivalenz. Collagiert die Partitur doch populäre Stile | |
des frühen 19. Jahrhunderts, von der französischen über die italienische | |
Oper bis hin zur Volksmusik, findet nur rauschhaft kurzfristig zu einer | |
romantischen Überformung, reißt immer wieder ab und neue Einflusssphären | |
an. Weber kann oder will das mannigfaltige Material eben nicht wie später | |
Richard Wagner zu etwas klangrein Neuem verweben. Weber musikalisiert | |
Vielfalt statt nationalfarbige Einheit, also Unsicherheit, und verweigert | |
gerade das, was die Nazis ihm später attestierten: den | |
nordisch-germanisch-deutschen Stil. | |
## Keine Nationaloper | |
Das könnte bedeuten: Webers offen komplexen Zeiten zwischen Restauration, | |
dank des Wiener Kongresses, und 1848er-Revolution waren in einer homogenen | |
musikalischen Struktur nicht als Nationaloper zu fassen. Ein solches | |
Projekt konnte und kann gar nicht funktionieren. Denn Nation meint eine | |
offen komplexe Collage heterogener Menschen, kein in sich abgeschlossenes | |
System. | |
Diese Relevanz des Stoffes für heute herauszuarbeiten, gelingt Regisseur | |
Kay Voges eindrücklich. Ins Zentrum stellt er den teuflischen Samiel. Eva | |
Verena Müller spielt ihn furios als knollennasigen, klumpfingrigen, | |
segelohrigen „Nationalopa“ – der vom nationalen Kunstwerk besessene | |
Créateur des Abends. Er durchschreitet eine Ahnenbildergalerie nationaler | |
Heroen, ringt um aktuelle Texte, befragt die Musik, experimentiert drauflos | |
– bekommt aber nicht einmal die Silben des Wortes „national“ stotterfrei | |
zusammen. | |
Mit der „Freischütz“-Gesellschaft fluten die „Fratzen“ (Voges) des | |
deutschen Nationalismus die Bühne, und zwar klischeelustig kostümiert – als | |
eingepinkelter Fußballfan, Neonazi mit Baseballschläger, | |
Wir-sind-das-Volk-Gröhler oder treudoofer Zwerg. „Deutschland wird am | |
Hindukusch verteidigt“, ist zu hören. SS marschiert, in einer NSU-Kneipe | |
wird Jägermeister gesoffen. Wenn der Jägerchor loslegt, wird ein | |
Pegida-Video darübergeblendet. | |
## Unkuschelige Polit-Comedy | |
Nachdem Stardirigent Christian Thielemann per TV-Interviewschnipsel die | |
Volks- als Kunstmusik bezeichnete, ist der Superhit der Oper, „Wir winden | |
dir den Jungfernkranz“, wie ein Auftritt der Wildecker Herzbuben | |
choreografiert. Und die romantische Liebe? Wenn sie Agathe zu Kopfe steigt, | |
rutscht sie auf Kot darstellendem Matsch aus und suhlt sich darin. Subtil | |
ist Voges’ Bildsprache nicht. Aber beste Polit-Comedy gegen alles Tümelige | |
und Kuschelige. | |
Ganz schlecht ergeht es Max. Unter Zielungenauigkeit leidet er beim | |
Schießen, sieht sich daher in seiner Männlichkeit bedroht – ist | |
kastrationsängstlich. Behauptet Voges. Und zeigt per Horrortrash-Clip, wie | |
ein Riesenpenis blutspritzend mit einer Heckenschere gekappt wird. Weswegen | |
die Veranstalter ihre FSK-Freigabe für den „Freischütz“ von 14 auf 16 Jah… | |
erhöhten. | |
Bald stöhnt Max: „Mir reicht’s.“ Zuschauer nehmen das als Vorlage und | |
rufen: „Mir auch!“ „Provinztheater“ brüllen andere, wenn sie türenkna… | |
die Aufführung verlassen. „Die Musik ist super“, wirft einer lauthals ein, | |
der gar nicht hingucken mag. „Halt’s Maul“, wird ihm entgegengeschleudert. | |
Also vor der Bühne ist richtig was los. Auf ihr aber noch mehr. | |
Schauspieler, Sänger, Chor, Extrachor, Statisten agieren simultan auf vier | |
Bühnenbildebenen, auf drei Leinwände wird dazu vorproduziertes und live | |
gefilmtes Videomaterial projiziert. In immer wieder neuer, stets locker | |
ironischer Anbindung an die Geschichte. Visuell stöbernd kann jeder in den | |
Bilderfluten eigene Assoziationspfade erschließen. Als Überbau. Während | |
sich die Musik unter die Handlung schiebt, die Voges’ Betonung des | |
Fragmentarischen aber nicht in Gänze mitmacht – und so ansatzweise als | |
sehnsuchtsleise Antithese funktioniert. Leider weiß das solide | |
Sängerensemble darstellerisch nicht immer zu überzeugen. | |
## Das Disparate feiern | |
Und Samiel? Ist immer mittendrin und als Zeremonienmeister dabei, das | |
Szenenkonvolut zu ordnen. Ihn verzückt der Hörnerklang. Er versucht | |
Deutschland als Action Painting darzustellen. Und wird ratlos: „Die | |
deutsche Angst – das ist viel zu trist, das muss anders … Frohsinn, | |
leicht.“ Samiel scheitert. Was Voges betont, indem den von Weber erfunden | |
Eremiten, der Opfer und Täter und Widersprüche final vereint, als Witzfigur | |
abtut und das Happy End selbst gestaltet – gerade das Disparate als | |
nationale Utopie feiern will. | |
Mackerdeutsche transvestieren also zu Frank-N.-Furter-Typen aus der „Rocky | |
Horror Picture Show“, heben ein dunkelhäutiges Kind hoch und schwenken die | |
schwarz-rot-goldene Fahne. Nachdem zuvor alles und jeder verhöhnt wurde, | |
kommt dieses Bild nun ungebrochen daher. Wirkt plump. Auch wie | |
Nationalpathos – nur eben neu definiert als offen für alle kulturellen und | |
Geschlechter-Identitäten. | |
Bis dahin aber gelingt dieser fulminanten, ungeheuer unterhaltsamen, | |
reizvoll überfordernden, vor Vitalität strotzenden Aufführung, den | |
„Freischütz“ als offene Wunde des Deutschnationalen zu präsentieren. | |
Vielleicht auch dank der Ein- zur Aufführung gibt es in | |
Repertoirevorstellungen inzwischen ein deutliches Urteil: massenhaft | |
applaudierter Zuspruch, vereinzelte Ablehnung. | |
15 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
## TAGS | |
Oper | |
Theatertreffen 2017 | |
Theater | |
Der Ring des Nibelungen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Musiktheater im Cyberraum: Der Hölle Netz hat uns umgarnt | |
In der Virtual-Reality-Version der Oper „Der Freischütz“ kommen Romantik | |
und Techgeschichte zusammen. Geschwebt wird durch Dornenkränze. | |
Theatertreffen in Berlin: In die Fenster schauen | |
Nicht wissen, wie es weitergeht: Diese Angst verbindet die ersten | |
Gastspiele des Theatertreffens von Simon Stone und Kay Voges. | |
Unpädagogisch: Gemetzel für Kinder | |
Die Staatsoper Hannover hat ein Stück für Kinder konzipiert. Doch bei Moby | |
Dick wird die Ermordung des Wals groß inszeniert | |
Philosophisches Musiktheater: Die Suche nach der Triebfeder | |
Die Gruppe Kommando Himmelfahrt wühlt im Müllhaufen der Geschichte. In | |
Hamburg lädt sie jetzt in die „Geisterbahn“ ein. | |
Autobiografie eines Opernsängers: „Türke, aber trotzdem intelligent“ | |
Selcuk Cara singt auf internationalen Bühnen und promoviert über Wagner. | |
Doch er wird immer wieder von Deutschen rassistisch abgewertet. |