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# taz.de -- Musiktheater im Cyberraum: Der Hölle Netz hat uns umgarnt
> In der Virtual-Reality-Version der Oper „Der Freischütz“ kommen Romantik
> und Techgeschichte zusammen. Geschwebt wird durch Dornenkränze.
Bild: Da und doch nicht greifbar: die Figur des Max aus dem „Freischütz“, …
Mit dem „Freischütz“ kann man’s ja machen. Die Oper von Carl Maria von
Weber, Libretto Friedrich Kind, wurde ja auch schon von [1][Tom Waits,
Robert Wilson und William S. Burroughs zur Rockoper „Black Rider“]
umgebaut. Eine Virtual-Reality-Version dieser Oper? Offenbar bietet das
Material, das bei seiner Uraufführung als Ausgangspunkt einer spezifisch
deutschen Operntradition betrachtet wurde, immer noch Anknüpfungspunkte für
die Gegenwart.
Und irgendwie ist die Geschichte von dem Bauernbub, der für die Liebe ein
Geschäft mit dem Teufel eingeht und um Mitternacht „Freikugeln“ gießt, die
immer das Ziel treffen, von bleibender Aktualität. Denn ist das nicht auch
eine Modernisierungsparabel? Eine Technologie – das Schießgewehr – wird
verbessert. Diese Technologie funktioniert effektiver. Aber sie hat auch
unerwartete Nebenwirkungen. Jede siebte Kugel trifft ein Ziel, das nicht
der Schütze, sondern der Teufel bestimmt hat.
So wie Drohnen weniger Marines das Leben kosten, aber auch das
empathiefreie Bombendroppen auf Zivilisten ermöglichen wie in einem
Videospiel. So wie Twitter zum globalen Dialog beigetragen hat, aber auch
Donald Trump eine Plattform für seine Hassmaschine bietet.
Und der „Freischütz“ Max? Ist der nicht auch ein [2][Selbstoptimierer, der
Risiken und Nebenwirkungen] in Kauf nimmt, um einem von außen vorgegebenen
Idealbild zu genügen? So wie dopende Sportler? Bodybuilder, die sich mit
Anabolika aufpumpen? Influencer, die sich Likes kaufen oder sich die Lippen
aufspritzen lassen? So einen Stoff kann man dann wohl auch in den
Cyberspace verlagern, den VR-Brillen eröffnen, wie es die [3][Berliner
Medienkunstgruppe CyberRäuber] (Marcel Karnapke und Björn Lengers) in
Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medien und dem Badischen
Staatstheater, beide in Karlsruhe, getan hat.
## Exklusiv für vier Zuschauer gleichzeitig
In Berlin ist ihre Version des „Freischütz“ nun im Collaboratorium Berlin
(CLB) im Aufbau-Haus am Moritzplatz zu sehen. Unter strenger
Berücksichtigung der derzeitigen Hygieneregeln kann man sich dort viermal
täglich nach Anmeldung unter vier VR-Brillen zwängen und einen virtuellen
Remix des klassischen Stoffs erfahren.
In dem sachlichen Erdgeschossraum an der Oranienstraße fehlt dann zunächst
einmal so gut wie alles, was die Aura eines klassischen Opernbesuch
ausmacht, die Eau-de-Cologne-Schwaden im Foyer, die Abendgarderobe und der
Pausenchampagner; statt Opas Opergläser muss man sich VR-Brillen aus
Plastik über den Kopf stülpen. Pro „Vorstellung“ werden vier Zuschauer mit
zwei Meter Abstand in die Nutzung der Geräte eingewiesen und müssen dabei
auf festgeklebten Rollstühlen sitzen. Zwei VR-Brillen funktionieren erst
mal nicht. So hinkt die Technologie der künstlerischen Vision hinterher.
Eigentlich prägte die Oper ja schon im 19. Jahrhundert der „Hang zum
Gesamtkunstwerk“ aus Schauspiel und Musik, Gesang und Kulisse, die in der
Virtual Reality nun um Medienformen wie Fotografie, Film, 3-D-Simulation
und räumlich verteilte elektronische und digitale Musik erweitert ist.
## Manches erinnert an Computerspiele aus den 90ern
In dem Paralleluniversum, in dem man sich dann wiederfindet, schwebt man
zur Ouvertüre erst mal durch einen Art gewundenen Dornenkranz zur ersten
virtuellen Bühne, die frei im digitalen Weltall hängt. Es ist die erste von
vier Szenen, die weniger die Handlung des Stücks wiedergeben, sondern eher
Situation und Atmosphären der Originaloper in die virtuelle Realität zu
übersetzen versuchen. Dort findet man sich in deutschen Wäldern oder
Irrgärten wieder, die in dieser Größe und Gestaltung weit über das
hinausgehen, was auch auf der größten analogen Bühne möglich wäre.
Die CyberRäuber haben dabei bewusst eine Vielfalt von
Gestaltungsmöglichkeiten von Malerei bis zu dreidimensionalen
Wire-Frame-Räumen genutzt, auch um die Vielseitigkeit des Mediums zu
demonstrieren. Vor diesen virtuellen Kulissen erscheinen dann die Sänger,
die am Badischen Staatstheater bei einer traditionellen Inszenierung des
„Freischütz“ aufgetreten waren.
Sie wurden beim Live-Auftritt aus mehreren Perspektiven aufgenommen, sodass
der Betrachter sie umkreisen kann; an einer Stelle verdreifacht sich Sänger
Konstantin Gorny und wenn man sich von einer zur anderen virtuellen Version
des Sängers bewegt, ändert sich auch die Soundperspektive, die Micha Kaplan
gestaltet hat.
Nicht alles beeindruckt, manche der Räume erinnern an Computerspiele aus
den 90er Jahren. Was immer auch beim individuellen Betrachter hängen bleibt
– auf jeden Fall wurde hier die Coronakrise genutzt, um neue performative
Methoden für die „neue Normalität“ zu erproben.
Die Dialektik solcher Versuche kann man schon ins Libretto des „Freischütz“
hineinlesen. Zum Beispiel wenn Kaspar, der aus Rachegelüsten den
Opernhelden Max zum „Freischuss“ überredet, in seiner berühmten Arie sing…
„Der Hölle Netz hat dich umgarnt! Nichts kann vom tiefen Fall dich retten
(…) Umgebt ihn, ihr Geister mit Dunkel beschwingt! Schon trägt er
knirschend eure Ketten!“ Das klingt so etwa nach dem Schicksal des
Opernfreundes, der sich plötzlich in Ermangelung von traditionellen
Aufführungen in der „kleinen Variante“ der VR-Version des „Freischütz“
wiederfindet. „Der Hölle Netz“ umgarnt den Betrachter dann in Form von
Daten und digitalen Szenarios. „Schon trägt er knirschend eure Ketten!“
Daran mag man sich auch erinnern, wenn man das nächste Mal in einer
endlosen Zoom-Konferenz festsitzt.
11 Jun 2020
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## AUTOREN
Tilman Baumgärtel
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Oper
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Tanz
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