| # taz.de -- Uraufführung am Badischen Staatstheater: Klar erkennbarer Wille zu… | |
| > Am Badischen Staatstheater in Karlsruhe gibt es „Die neuen Todsünden“ zu | |
| > sehen. Das sind sieben Kurzdramen internationaler Autorinnen. | |
| Bild: Szenenbild zu „Die neuen Todsünden“, uraufgeführt in Karlsruhe | |
| Der Wille zur Opulenz ist klar erkennbar: Mit einer fast vierstündigen | |
| Aufführung, an der sieben internationale Autorinnen und alle drei Sparten | |
| des Hauses beteiligt sind, bricht das Badische Staatstheater Karlsruhe das | |
| pandemiebedingte Bilder- und Live-Erlebnis-Fasten. | |
| Das Stadsteater Uppsala und das Théâtre National du Luxembourg reichen ihm | |
| dabei die Hand, denn das Thema geht sie und uns alle an: „Die neuen | |
| Todsünden“, wie sie Mahatma Gandhi 1925 in Anlehnung an die biblischen | |
| formulierte, sind in unserer Gegenwart bewährte Praxis: Von „Politik ohne | |
| Prinzipien“ über „Wissenschaft ohne Menschlichkeit“ bis hin zu „Gesch�… | |
| ohne Moral“. | |
| Wer nun denkt, die Themenwahl habe ihren Ursprung darin, dass es im Sommer | |
| interne Beschwerden gegen den Führungsstil des Generalintendanten Peter | |
| Spuhler gab, ist auf dem Holzweg. Die Auftragsstücke der Autorinnen – | |
| [1][Schauspieldirektorin Anna Bergmann beschäftigt auf allen Ebenen | |
| bevorzugt Frauen] – waren damals längst geschrieben. | |
| Selbst von Corona war noch nicht die Rede, was man kaum glaubt, wenn man | |
| das erste Kurzdrama „Ein Nichts“ liest oder sieht. In ihm hat die | |
| griechische Dramatikerin Angeliki Darlasi einen realen Politskandal in | |
| ihrer Heimat zum Ausgangspunkt einer Bühnenbegegnung gemacht: 2012 waren im | |
| Wahlkampf heroinsüchtige Frauen in Athen als Prostituierte und lebende | |
| HIV-„Bomben“ (heute: „Superspreader“) diffamiert und nachhaltig ruiniert | |
| worden. | |
| ## Das Theater als Beichtstuhl | |
| In Karlsruhe treffen nun Jahre später eine dafür verantwortliche Ministerin | |
| und eine junge Frau in einer Kirche aufeinander, an deren Architektur der | |
| bildende Künstler Stefan Strumbel das Bühnenbild angelehnt hat – als sei | |
| das Theater der Beichtstuhl, in dem unsere darin grob skizzierte Gegenwart | |
| ihren göttlichen Richter um Absolution bittet. | |
| Darlasis Text, Anna Bergmanns Regie und die Kostüme haben Gut und Böse | |
| schon mal für ihn vorsortiert: Die Politikerin ist so aalglatt und das | |
| Mädchen so überzeugt von seiner Nichtigkeit, dass eine überraschende | |
| Wendung unwahrscheinlich ist. Und doch: Sie kommt! Wenn auch nur in Gestalt | |
| einer noch bösartigeren politischen Volte im Namen von Familie, Wirtschaft | |
| und Nation. | |
| Es gibt wenige Stücke an diesem Abend, die sich so eng an „ihre“ Todsünde | |
| schmiegen wie dieses sich an die „Politik ohne Prinzipien“; es gibt aber | |
| einige, die ihre Botschaften wie Banner vor sich hertragen. Ob dieses | |
| Banner die Form eines psychologischen Kammerspiels oder einer Groteske hat: | |
| Bergmann stellt sich ganz in den Dienst des jeweiligen Stücks. | |
| Wenn der Abend also nicht zu etwas Ganzem zusammenwächst, hat das Methode. | |
| So wird aus „Fisch im Limbus“ der Luxemburger Autorin Elise Schmit eine | |
| hart an der Grenze zur Genre-Persiflage vorbeischrammende Oper, in der sich | |
| zwei Frauen in einem Supermarkt der Zukunft um den letzten aller Fische | |
| streiten und dabei Satzbausteine versingen wie „Wildfang krass mega“ oder | |
| „Eiswein gibt’s nicht mehr: Klimawandel!“. | |
| ## Obszöne Fisch-Fang- und -Verarbeitungs-Praktiken | |
| Dazu gibt eine Ballerina mit rosa schillerndem Trikot und dicker | |
| Lippenprothese das exotische Objekt der Begierde. Und weil es bei alldem um | |
| den „Genuss ohne Gewissen“ geht, werden an den Wänden der Bühne wie des | |
| Kirchenschiff-Zuschauerraums obszöne Bilder von Fisch-Fang- und | |
| -Verarbeitungs-Praktiken gezeigt. | |
| Mit Filmprojektionen geht der ganze Abend verschwenderisch um. „Deutsche | |
| Küche“ von der in Teheran geborenen Filmemacherin, Schauspielerin und | |
| Autorin Maryam Zaree findet fast komplett als Montage von dokumentarischen, | |
| vorgefertigten und Live-Filmen statt, weil das Stück auch inhaltlich | |
| verschiedene Aspekte und historische Ausformungen deutschnationalen Denkens | |
| und Handelns miteinander verschneidet. | |
| Manchmal scheinen die Videos aber schlicht auch für vieles entschädigen zu | |
| müssen, was zwischen den Schauspielern gerade nicht möglich ist. Trotz der | |
| Abstandsregeln Funken zwischen ihnen zu entfachen gelingt der Regisseurin | |
| fast ebenso selten wie den Autorinnen die anregende Irritation. | |
| Die schafft Sivan Ben Yishai, wenn sie eine Mauerschau vom jüdischen Jom | |
| Kippur-Fest zur Anrufung eines blutigen Gottesgerichts ausweitet, dem die | |
| aktuellen Zustände in ihrem Geburtsland Israel und die europäische | |
| Asylpolitik Zunder geben. | |
| ## Hochzeitsplanerin mit Comedy-Ambitionen | |
| Die für mich gelungenste Inszenierung kommt dann ganz zum Schluss: Ein | |
| szenisches Triptychon zeigt einen Mann am Scheideweg. Bei seiner Hochzeit | |
| hat ihn die Vergangenheit als missbrauchtes Kind eingeholt, das man links | |
| auf der Bühne als einen von zwei Puppenspielern geführten bebrillten Jungen | |
| sieht, dem die erlittene Gewalt aus jeder Bewegung schreit. | |
| Rechts liegt der Mann dann schon bereits auf der Bahre und wird von einer | |
| jungen Frau liebevoll verabschiedet. Wie er von hier nach da gekommen ist, | |
| spielen in der Mitte Tom Gramenz und Sarah Sandeh als eine an der eigenen | |
| Schusseligkeit und Unlustigkeit verzweifelnde Hochzeitsplanerin mit | |
| Comedy-Ambitionen: Zwei Menschen, die ihre Schwächen zeigen und ihre | |
| wachsende Faszination füreinander spürbar machen. | |
| In diesem ersten Bühnenstück der 1986 in Rumänien geborenen Schauspielerin | |
| Larisa Faber stiebt zum ersten Mal ein Hoffnungsfünkchen auf. Nur zwischen | |
| zwei Individuen, aber immerhin. | |
| 6 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sabine Leucht | |
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